Leseprobe – Zeit der Veränderung

Leseprobe aus Zeit der Veränderung

Band 1 der Blackstorm – Reihe


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Kapitel 1

»Mensch Kira, beeil dich doch! Ich hab etwas ganz Tolles ent­deckt. Wenn du das siehst, flippst du aus.«
Ash­leys Stimme über­schlägt sich fast. Kiras beste Freun­din sitzt im Wohn­zim­mer der ge­mein­sa­men Stu­den­ten­woh­nung und ba­lan­ciert ihren Laptop auf den Knien. Lässig hält sie eine Zi­ga­ret­te in der Hand, die sie sich jedoch noch nicht an­ge­steckt hat. Sie ist wieder einmal kurz vorm Durch­dre­hen. Mit vor Auf­re­gung ge­rö­te­tem Ge­sicht fährt sie sich nervös durch die Haare, die sie vor Kurzem kas­ta­ni­en­braun ge­färbt hat. Das ist eine ihrer Macken. Mit dem Zeug auf dem Kopf, wie sie es nennt, ist sie nie zu­frie­den. Des­halb stylt sie sich auch immer wieder um.
Kiras Neu­gier hält sich in Gren­zen, da Ashley alle fünf Mi­nu­ten ›ganz tolle Sachen‹ im World Wide Web findet. Das ist ihre zweite und gleich­zei­tig größte Macke. Sie ist in­ter­net­süch­tig. In jeder freien Minute surft sie im Netz. In der Mensa, in der Stra­ßen­bahn, sogar im Aufzug zückt sie ihr Smart­phone und wischt mit ihrem Zei­ge­fin­ger über das Dis­play. Be­stimmt hat Ashley schon Horn­haut auf der Fin­ger­kup­pe. Kira fragt sich, ob es über­haupt Seiten gibt, die ihre Freun­din nicht be­sucht hat.
Etwas Gutes hat Ash­leys Sucht aber auch. Sie hat in den letz­ten drei Jahren nicht locker ge­las­sen und jede freie Minute ge­op­fert, um Kira die Vor­zü­ge der vir­tu­el­len Welt näher zu brin­gen. Über diese Hart­nä­ckig­keit ist Kira ihr heute dank­bar, da sie sich nun nicht mehr so ver­lo­ren fühlt, wenn sie ihren Laptop in Be­trieb nimmt.
»Ashley, wenn ich dir auch nur einen Tag lang den Laptop weg­neh­me, wür­dest du sterben.«
Kira schüt­telt den Kopf und kann sich ein Lachen nicht ver­knei­fen. Dabei fliegt ihre blonde Mähne in alle Rich­tun­gen. Ashley über­hört den Scherz und rutscht un­ru­hig von einer Po­ba­cke auf die andere.
»Jetzt komm schon. Ich möchte end­lich dein doofes Ge­sicht sehen, wenn ich dir das hier zeige.«
Un­ge­dul­dig klopft sie auf den freien Platz neben sich. Seuf­zend lässt Kira sich aufs Sofa fallen und bindet ihre fast hüft­lan­gen Haare zu einem Pfer­de­schwanz zu­sam­men. Sie weiß, dass ihre beste Freun­din so lange keine Ruhe geben wird, bis sie ihre un­ge­teil­te Auf­merk­sam­keit hat.
Noch so eine Macke von Ashley: die Un­ge­duld. Alles muss immer jetzt und sofort ge­sche­hen. Wenn Ashley ›Hopp‹ schreit, müssen alle sprin­gen. Geduld ist ein­deu­tig nicht ihre Stärke.
»Na dann zeig her«, sagt Kira schein­bar ge­lang­weilt und täuscht ein lautes Gähnen vor.
Stra­fend sieht Ashley sie an und streckt ihr die Zunge ent­ge­gen. Dann dreht sie wort­los den Laptop zu ihr herum und mus­tert sie er­war­tungs­voll. Die Home­page eines Hotels in den USA ist ge­öff­net. Kira hat etwas voll­kom­men an­de­res er­war­tet und zieht ver­wun­dert eine Au­gen­braue hoch.
›Blackstone Hotel & Spa, Fort Myers, Flo­ri­da‹ prangt am oberen Rand der Seite. In der rech­ten Ecke be­fin­den sich in­ein­an­der ver­schlun­gen ein B und ein S. Sonst steht da ein­fach nur: ›Wel­co­me to Blackstone Hotel – more than just re­la­xa­ti­on‹, dar­un­ter zeigt ein Banner ab­wech­selnd Fotos.
»OK, ein Hotel. Und was ist damit?« Kira hat ab­so­lut keinen Schim­mer, was Ashley von ihr will.
»Warte. Hier …«, mur­melt ihre Freun­din und wech­selt auf ›Ho­tel­an­sicht‹. Lang­sam klickt sie sich durch die zum Teil atem­be­rau­ben­den Bilder.
Kiras Augen leuch­ten be­geis­tert, be­son­ders als sie das Foto der Au­ßen­an­sicht des Haupt­ein­gangs sieht. Ein schmie­de­ei­ser­nes Tor, auf dem auch wieder das in­ein­an­der ver­schlun­ge­ne BS zu finden ist, gibt den Weg zu einer pal­men­ge­säum­ten Zu­fahrt frei. Im Hin­ter­grund sieht sie gra­sen­de Pferde. Es ver­mit­telt den Ein­druck von Ruhe und länd­li­cher Idylle, ohne spie­ßig zu wirken. Es ist eines dieser Hotels, das durch eine schlau ge­stal­te­te Au­ßen­an­la­ge in der Land­schaft zu ver­schwin­den scheint.
Laut stößt Kira die Luft aus ihren Lungen. Sie ist au­gen­blick­lich ver­liebt, und dass sich das Hotel in Flo­ri­da be­fin­det, stei­gert dieses Gefühl ins Un­er­mess­li­che. Seit sie denken kann, ist Flo­ri­da ihr ab­so­lu­ter Traum­staat. Ihr Vater ist in Tampa ge­bo­ren und auf­ge­wach­sen und sie hat, so­lan­ge ihre Groß­el­tern noch lebten, jeden Sommer mit ihren Brü­dern dort verbracht.
»Planst du deinen Urlaub?«, mus­tert sie Ashley fra­gend. »Oder warum soll ich mir das anschauen?«
Ashley hat dieses spe­zi­el­le Fun­keln in den Augen, das sie jedes Mal hat, wenn sie etwas aus­heckt. Sie klickt auf ›Come join the team‹ und Kira schwant Böses. Fas­sungs­los liest sie die Aus­schrei­bung für eine Stelle als As­sis­tent Ge­ne­ral Ma­na­ger. Mit hoch­ge­zo­ge­ner Au­gen­braue sieht sie ihre Mit­be­woh­ne­rin an. Lang­sam däm­mert ihr, was sie von ihr will.
»Das ist doch die Stelle für dich. Da wür­dest du gut hin­pas­sen«, platzt Ashley auch schon heraus. Wenn sie diesen Ton an­schlägt, meint sie es ver­dammt ernst und duldet keine Wi­der­re­de. Doch das in­ter­es­siert Kira reich­lich wenig.
»Bist du kom­plett ver­rückt ge­wor­den? Ich hab gerade erst mein Stu­di­um abgeschlossen.«
»Und?«, fragt sie ge­dehnt, beugt sich zu Kira hin­über und legt den Kopf zur Seite.
»Nix und. Hier steht, dass sie je­man­den mit Be­rufs­er­fah­rung suchen. Also hab ich so­wie­so keine Chance.«
»Jetzt mach mal halb­lang, du bist in einem Hotel groß ge­wor­den, mehr Be­rufs­er­fah­rung kann man gar nicht haben«, winkt Ashley ab.
»Hast du schon be­merkt, dass sich das Hotel in den USA befindet?«
»Ja und? Ich dachte, du liebst Flo.ri.da«, betont Ashley jede ein­zel­ne Silbe süf­fi­sant, dabei zieht sie ihre Nase kraus. »Au­ßer­dem be­sitzt du be­nei­dens­wer­ter­wei­se die ame­ri­ka­ni­sche Staatsbürgerschaft.«
»Das stimmt schon. Es ist auch nicht so, dass ich kein In­ter­es­se hätte, aber meine Eltern haben mich Ho­tel­ma­nage­ment stu­die­ren lassen, damit ich einmal ihr Hotel über­neh­me. Und das be­fin­det sich leider in Europa.«
»Willst du dein Leben lang das machen, was dir deine Eltern vor­schrei­ben?«, ent­geg­net Ashley sicht­lich ge­nervt. »Kira, wenn ich an deiner Stelle wäre, würd› ich mich sofort be­wer­ben. Was hast du zu verlieren?«
Ver­träumt be­trach­tet Kira noch­mals die Bilder. Dort zu ar­bei­ten hätte schon was. Ashley stellt den Laptop auf den Tisch und steht auf. Mit er­ho­be­nem Zei­ge­fin­ger und tiefer Stimme ver­kün­det sie: »Ich sage: Wer für seinen Traum kämpft, kann schei­tern. Wer es gar nicht erst ver­sucht, der ist von Anfang an ge­schei­tert. Also los, Kira Elena Tinson, bewege deinen hüb­schen, klei­nen Arsch. Denn eines ist son­nen­klar: Wenn du dich nicht be­wirbst, wirst du die Stelle auf keinen Fall bekommen.«
Mit ihrer di­rek­ten Art schafft Ashley es, Kira zu mo­ti­vie­ren. Sie weiß genau, dass ihre Freun­din zwi­schen­durch einen Arsch­tritt wie diesen braucht.
»OK. OK. Du lässt ja so­wie­so nicht locker, bis ich die Be­wer­bung ge­schrie­ben habe.« Sich mit Ashley an­zu­le­gen, würde Kira nicht im Traum ein­fal­len, dafür kennt sie ihre Mit­be­woh­ne­rin viel zu gut. Sie würde ganz sicher den Kür­ze­ren ziehen. Als Ashley be­merkt, dass sie Kira am Haken hat, ist sie nicht mehr zu halten. Auf­ge­regt drängt sie zur Eile.
»Dann hopp! Los. Mach schnell. Ich muss meine Be­wer­bun­gen auch noch fort­brin­gen. Ich warte, bis du fertig bist.«
Kira stapft seuf­zend in ihr Zimmer und sucht die Un­ter­la­gen zu­sam­men. Sie hätte sich gleich denken können, dass Feld­we­bel Ash ihr kein Schlupf­loch – noch nicht einmal ein winzig klei­nes – für einen Rück­zie­her lässt. Aber Ashley hat recht. Das Hotel ist traum­haft schön und mehr als eine Absage kann Kira nicht be­kom­men. Mit ei­ni­gen Blät­tern in der Hand kehrt sie ins Wohn­zim­mer zurück. Ashley sitzt wieder auf dem Sofa und haut wie wild in die Tasten. Flüch­tig hebt sie den Kopf und sieht ihre Freun­din fra­gend an. Nach­denk­lich sor­tiert Kira noch­mals Blatt für Blatt und steckt alles fein säu­ber­lich in eine Mappe.
»Mir fehlt nur noch ein An­schrei­ben, sonst hab ich alles.«
»Lass dir Zeit, ich wollte so­wie­so noch eine rauchen.«
Ashley klappt seuf­zend den Laptop zu, springt auf und grinst dabei schel­misch. Sie holt ein Feu­er­zeug und ver­zieht sich auf den win­zi­gen Balkon. Schon nach kurzer Zeit ist sie von dicken Rauch­schwa­den umgeben.
Kira ist kaum mit dem An­schrei­ben fertig und klickt gerade auf ›Dru­cken‹, da streckt Ashley auch schon wieder un­ge­dul­dig den Kopf zur Tür herein.
»Wie lange brauchst du noch?« Ihre Frage klingt drängend.
»Ich dachte, ich soll mir Zeit lassen?«, sti­chelt Kira.
»Wie lange?«
»Reg dich ab. Ich bin soweit«, faucht Kira zurück und klebt das Kuvert zu.

* * *

Auf dem Weg zum Brief­kas­ten ki­chern die Mäd­chen albern und malen sich die Zu­kunft in den schöns­ten Farben aus.
»Glaubst du wirk­lich, dass ich eine Chance habe?«, fragt Kira un­si­cher. Ihr Selbst­be­wusst­sein be­fin­det sich wieder einmal im Keller. Zö­gernd steht sie vor dem gelben Kasten.
»Wirf. Den. Ver­damm­ten. Brief. Ein.«
Ashley kommt ihr be­droh­lich nahe und sieht sie mit zu­sam­men­ge­knif­fe­nen Augen an. Mit laut klop­fen­dem Herzen lässt Kira den Um­schlag in den Post­kas­ten glei­ten und bereut es im glei­chen Augenblick.
»Dass ich auch immer auf dich hören muss«, seufzt sie.
Ashley hin­ge­gen ist mit sich selbst sehr zu­frie­den und be­merkt un­ge­rührt: »So, das wäre ge­schafft. Jetzt kommt eine laaan­ge Zeit des War­tens und ich fahre erst mal in den Urlaub.«
Ihre Gabe, in einem Satz das Thema zu wech­seln, ist gött­lich. Dem Aus­druck im Ge­sicht nach liegt sie schon am Strand und schlürft einen Cock­tail. Ge­nüss­lich ver­zieht sie den Mund und blin­zelt in die Sonne.
»Und ich fahre zu meinen Eltern nach Kärn­ten und beich­te, dass ich nicht bei ihnen ar­bei­ten werde«, stöhnt Kira.
Vor diesem Ge­spräch hat sie sich bis­lang er­folg­reich ge­drückt. Sie weiß genau, wie gerne ihre Eltern es sehen würden, dass sie im Fa­mi­li­en­ho­tel ein­steigt. Vor fünf Jahren muss­ten sie schon ihren Bruder Damian ziehen lassen. Jetzt auch noch Kira den Weg frei­zu­ge­ben, wird ihnen ver­dammt schwerfallen.
»Sag bloß, du hast ihnen immer noch nichts er­zählt.« Ashley rümpft die Nase und schüt­telt den Kopf. Die Feig­heit, die ihre Freun­din dies­be­züg­lich an den Tag legt, ist ihr un­be­greif­lich. »Es wird deine Eltern schon nicht umbringen.«
»Ich weiß, ich hab aber trotz­dem schiss. Willst du nicht doch ein paar Tage mit­kom­men? So als mo­ra­li­sche Un­ter­stüt­zung?«, fragt Kira hoff­nungs­voll, obwohl sie die Ant­wort ihrer besten Freun­din schon kennt.
»Nee Kira, ich hab Jens ver­spro­chen, den letz­ten Sommer meines Vor-der-Arbeit-Lebens mit ihm zu ver­brin­gen. Wer weiß, wo ich an­ge­nom­men werde. Vor einer Fern­be­zie­hung hab ich so­wie­so tie­ri­schen Bammel. Da will ich ihm we­nigs­tens noch zeigen, was er an mir hat.«
Sie grinst frech und ihre Augen blit­zen vor Vor­freu­de auf. Kira kann sich genau aus­ma­len, was Ashley mit dem armen Kerl vorhat. Sie wird Jens, den sie vor zwei Jahren im Fit­ness­stu­dio ken­nen­ge­lernt hat, die ganze Zeit über kaum aus dem Bett lassen. Ob das dann ein er­hol­sa­mer Urlaub wird, wagt Kira zu be­zwei­feln. Auch wenn sie ein wenig nei­disch auf ihre Freun­din ist, freut sie sich, dass Ashley ihren ›Mister Right‹ ge­fun­den hat.
Kira hatte bei Män­nern noch nie Glück. Ihre längs­te Be­zie­hung dau­er­te gerade einmal ein halbes Jahr und das war in der 9. Klasse. Sie hat ein Händ­chen dafür, sich jedes Mal in die fal­schen Jungs zu ver­lie­ben. Doch noch gibt sie die Hoff­nung nicht auf. Ihre Mutter be­haup­tet immer, dass es für jeden Topf einen pas­sen­den Deckel gebe. Eines Tages wird auch sie ihren Deckel finden, davon ist Kira überzeugt.
»Und was ist mit dir? Willst du nicht mit Roland ein paar Tage ge­mein­sam in den Urlaub?«, stört Ashley ihre Gedanken.
Ver­le­gen zupft Kira an ihren langen, glat­ten Haaren und wi­ckelt sich eine Sträh­ne um den Finger.
»Ich weiß ja noch nicht einmal, ob wir jetzt zu­sam­men sind oder nicht.«
Kira kennt Roland schon ewig. Sie gingen ge­mein­sam in den Kin­der­gar­ten und be­such­ten die glei­che Schule. In der 9. Klasse fing Kira an, für ihn zu schwär­men, doch die beiden schaff­ten es nie, zur selben Zeit solo zu sein. Erst, als sie sich vor vier Wochen zu­fäl­lig beim Aus­ge­hen trafen, pas­sier­te es. Er war frei, Kira hatte auch nichts am Laufen und so knutsch­ten sie in ir­gend­ei­ner dunk­len Ecke ir­gend­ei­nes Lokals. In den darauf fol­gen­den Tagen ver­brach­ten sie ein paar nette Stun­den mit­ein­an­der, bis er über­ra­schend fort musste. Seit­dem herrscht ab­so­lu­te Funkstille.
»Hat er sich schon bei dir ge­mel­det?«, möchte Ashley wissen. »Er müsste doch bald zurück sein, oder? Sind die drei Wochen nicht schon rum?«
»Ei­gent­lich schon, aber ich hab noch nichts von ihm gehört. Er hat sich, genau gesagt, die ganze Zeit über nicht ge­mel­det.« Kira zuckt mit den Schul­tern und run­zelt nach­denk­lich die Stirn. Je länger sie dar­über nach­denkt, desto un­si­che­rer wird sie. Ir­gend­et­was stinkt hier kräf­tig zum Himmel.
»Also doch. Ich hab mich die ganze Zeit nicht ge­traut zu fragen. Du warst immer so ko­misch, wenn ich auf das Thema ›Roland‹ zu spre­chen kommen wollte«, be­merkt ihre Freun­din erschüttert.
Kiras Augen werden feucht. Schon seit Tagen hat sie dies­be­züg­lich ein flaues Gefühl im Magen. Alle An­zei­chen weisen dar­auf­hin, dass etwas faul ist, aber noch ist Kira nicht bereit, es sich einzugestehen.
»Viel­leicht hat er da oben auf dem Glet­scher auch keinen Emp­fang«, ver­sucht sie ihn zu verteidigen.
»Be­stimmt. Dort gibt es ganz sicher auch kein Fest­netz. Wahr­schein­lich hat er dir Rauch­zei­chen ge­schickt und du hast sie übersehen.«
Ashley klingt ver­ächt­lich. Es liegt auf der Hand, was sie in Wahr­heit denkt. Wenn er sein Herz an ihre schüch­ter­ne, aber äu­ßerst lie­bens­wer­te Mit­be­woh­ne­rin ver­lo­ren hätte, müsste er ihrer Mei­nung nach min­des­tens fünf Mal am Tag anrufen.
»Hast du seine Nach­richt noch? Da steht doch das genaue Datum dabei. Lass uns nach­se­hen, wo­mög­lich liegen wir falsch und er hockt nach wie vor auf dem Gletscher.«
Klar hat Kira die SMS ab­ge­spei­chert. Um­ständ­lich holt sie das Handy aus der Ho­sen­ta­sche. Sie weiß ganz genau, wann Roland die Nach­richt ge­schickt hatte. Wort­los hält sie Ashley das Te­le­fon vor die Nase.


Roland, 03.06.2012
Sorry Kira, mein Bruder hat sich gerade bei mir ge­mel­det. Ich soll zu ihm ins Trai­nings­la­ger kommen. Es wurde kurz­fris­tig noch ein Platz frei. Bin in drei Wochen wieder da.


Kira muss nicht auf das Datum schau­en, um zu wissen, dass er längst über­fäl­lig ist. Heute ist der vierte Juli und die drei Wochen sind längst vorbei.
»Süße, da stimmt was nicht. Mir kommt es ko­misch vor, dass er sich nicht bei dir meldet«, meint Ashley bedauernd.
Kira zuckt be­trübt mit den Schul­tern. Ihre Freun­din liegt sicher rich­tig, doch sie sehnt sich so sehr nach einer glück­li­chen Be­zie­hung, dass sie krampf­haft an dem Glau­ben fest­hält, dass alles in Ord­nung sei.
»Ich kann doch nicht immer nur Pech haben und dau­ernd an den Fal­schen ge­ra­ten«, hängt sie be­drückt ihren Ge­dan­ken nach. Da bleibt Ashley plötz­lich wie an­ge­wur­zelt stehen, und Kira rennt un­ge­bremst in sie hinein.
»Was ist?«
»Wenn man vom Teufel spricht …« Ashley zeigt mit mit­lei­di­gem Blick auf ihr Stammcafé.
»Das glaube ich jetzt nicht«, stöhnt Kira.
An einem Tisch auf der Gäs­te­ter­ras­se sitzt Roland mit seinem Bruder und trinkt see­len­ru­hig ein Bier. Wie immer trägt er ein haut­enges T‑Shirt, das den mus­ku­lö­sen Ober­kör­per betont. Sein blon­des Haar ist zer­zaust, als wäre er gerade aus dem Bett ge­kro­chen. Ei­gent­lich mag Kira so kurze Haare nicht, aber sie passen zu ihm und un­ter­strei­chen sein sport­li­ches Aussehen.
Kira will gerade los­ge­hen, um ihn zur Rede zu stel­len, da taucht Jenny auf und fällt ihm um den Hals. Er hebt sie wie eine Feder in die Höhe, um sie lang und innig zu küssen. Mit of­fe­nem Mund be­ob­ach­tet Kira, wie die beiden ihre Lippen auf­ein­an­der pres­sen. Un­sanft wird sie aus Wolke 7 ge­sto­ßen. Aus­ge­rech­net Jenny, das schwarz­haa­ri­ge Flitt­chen aus ihrer alten Schule. Die konnte sie noch nie leiden. Das liegt haupt­säch­lich daran, dass sie ihr immer die Typen aus­spannt. Wenn Jenny auf­taucht, brennt bei den meis­ten Män­nern die Si­che­rung durch. Sie klim­pert einmal mit den Wim­pern, wa­ckelt kurz mit dem Po und schon hat sie das Objekt der Be­gier­de am Haken. Es gibt kein männ­li­ches Wesen im Um­kreis von ein­hun­dert Ki­lo­me­tern, das sie nicht in ihrem Bett hatte. Bis auf Roland, aber das hat sie jetzt an­schei­nend nach­ge­holt. Von ihm hätte Kira etwas mehr Ge­schmack erwartet.
»Warum bin ich ei­gent­lich so ent­setzt?«, grü­belt sie, »Lang­sam sollte ich mich daran ge­wöhnt haben, dass ich schein­bar nichts an mir habe, das Männer an­nä­hernd an­zieht.« Un­wil­lig schüt­telt Kira den Kopf und er­wacht aus ihrer Erstarrung.
»Ashley, bitte lass uns sofort ver­schwin­den«, flüs­tert sie mit be­leg­ter Stimme. »Schnell, bevor er uns bemerkt.«
Eine Kon­fron­ta­ti­on mit ihm kann sie jetzt ab­so­lut nicht ge­brau­chen. Kira packt Ashley am Arm und will sie hinter sich her­schlei­fen, doch ihre Freun­din schüt­telt den Kopf.
»Zu spät. Er hat dich ge­se­hen. Er kommt her.«
Kira atmet tief ein, um sich ei­ni­ger­ma­ßen auf das vor­zu­be­rei­ten, das jetzt kommen würde. »Junge, das über­lebst du nicht, dich zer­reiß› ich in der Luft«, flüs­tert sie und dreht sich wie in Zeit­lu­pe um.
»Hallo, Kira.« Roland steht vor ihr, mit schnee­wei­ßem Ge­sicht und sicht­lich ge­schockt. Er weiß genau, dass er Mist gebaut hat. Kira schweigt ihn eisig an. Sie ist auf 180. Lie­bend gerne würde sie ihm jetzt an die Gurgel springen.
»Ich wollte es dir sagen, wirk­lich …« Roland stockt, hofft ver­geb­lich auf ir­gend­ei­ne Re­ak­ti­on, dann schluckt er kurz und er­klärt: »Nach­dem du an dem Abend ge­gan­gen warst, stand plötz­lich Jenny vor mir.«
Er blickt in Jennys Rich­tung und zuckt be­dau­ernd mit den Schul­tern. Ohne hin­se­hen zu müssen, spürt Kira den ge­häs­si­gen Blick der Kon­kur­ren­tin, mit dem sie ihr zeigt, dass sie wieder einmal ge­won­nen hat.
»Ich stehe schon lange auf sie … und plötz­lich will sie auch etwas von mir.«
»Also war das mit dem Trai­nings­la­ger ge­lo­gen«, stellt Kira tro­cken fest und ist kurz vorm Explodieren.
»Nicht ganz, ich bin dort hin­ge­fah­ren, aber nicht alleine.«
Die Tat­sa­che, dass er au­gen­schein­lich wirk­lich ein schlech­tes Ge­wis­sen hat und somit weiß, wie weh er ihr getan hat, macht sie noch viel wü­ten­der. Nur mit größ­ter Mühe kann sie sich zurückhalten.
»Klasse, na­tür­lich ist es viel be­que­mer, sich zu ver­drü­cken und der doofen Kira nichts davon zu sagen. Toll!«
Ihr Magen re­bel­liert, sie ist kurz davor, sich zu über­ge­ben. Jedes Mal er­wischt es sie mit voller Breit­sei­te, immer be­kommt sie die Idio­ten ab. Kann sie nicht einmal, nur ein ein­zi­ges Mal im Leben, an einen netten Kerl geraten?
»So ist es nun mal, Kira. Ich kann es nicht mehr ändern.«
Wenig Be­dau­ern liegt in seinem Blick. Jetzt platzt Kira end­gül­tig der Kragen. Ihre mit Sorg­falt auf­recht­erhal­te­ne Selbst­be­herr­schung ist mit einem Schlag dahin. Ihre Ge­füh­le brül­len sie tief ver­letzt an. Sie holt aus und ver­passt ihm eine kräf­ti­ge Back­pfei­fe. Dass ihre Hand­flä­che brennt, be­merkt sie kaum.
»Ich hoffe, du fällst kräf­tig auf die Schnau­ze mit deiner Jenny«, be­merkt sie bissig. »Komm danach bloß nicht an­ge­kro­chen, wir sind fertig mit­ein­an­der. Für immer!«
Kira wirft ihrer Freun­din, die fas­sungs­los neben ihr steht und Roland mit zor­ni­gen Augen an­fun­kelt, einen ver­zwei­fel­ten Blick zu.
»Ashley, lass uns gehen. Ich will hier sofort weg. Ich kann den Arsch nicht eine Minute länger ertragen.«
Völlig außer Fas­sung dreht sich Kira um und rauscht davon. Dabei be­merkt sie nicht, dass sie in die fal­sche Rich­tung läuft. Ashley rudert mit den Armen und rennt ihr hin­ter­her. Erst in einem Park, in dem Kira total aus der Puste anhält, ge­lingt es ihr, sie ein­zu­ho­len. Tränen rinnen Kira links und rechts die Wangen hin­un­ter und ihr ist immer noch tie­risch schlecht. Ashley steht mit weit of­fe­nen Armen vor ihr, in die Kira ohne zu zögern hin­ein­fällt. Das ist wieder einmal ty­pisch für ihr Leben. Da reicht es ihr den klei­nen Finger, um sie dann mit voller Wucht in den Schmutz zu ziehen. Kira würde sich am liebs­ten in Luft auflösen.
»Ich. Will. Weg. Ich. Will. Nach. Florida.«
Sto­ckend kommen die Worte aus Kiras Mund. Mehr denn je ist sie dank­bar, dass Ashley sie über­re­det hat, die Be­wer­bung ab­zu­schi­cken. Sie braucht un­be­dingt einen Neu­an­fang und das am besten so weit weg wie mög­lich. Den Zoff mit ihren Eltern nimmt sie nun gerne in Kauf. Haupt­sa­che sie kann den ganzen Mist hier hinter sich lassen. Roland und seine Jenny immer wieder zu Ge­sicht zu be­kom­men, könnte sie auf Dauer nicht ertragen.
»Jetzt be­ru­hi­ge dich doch erst mal, Süße.«
Ashley streicht ihrer Freun­din lie­be­voll über den Rücken und reicht ihr ein Ta­schen­tuch. Ge­mein­sam setzen sie sich auf eine Park­bank, und Kira putzt sich ge­räusch­voll die Nase.
»Ist doch super ge­lau­fen«, be­merkt sie sar­kas­tisch, nach­dem sie auf­ge­hört hat zu weinen.
»Der hat dich doch gar nicht ver­dient, der Blödmann.«
»Der Blöd­mann ist der ein­zi­ge Grund ge­we­sen, warum ich hier blei­ben wollte. Des­halb hab ich zu Hause nichts von meinen Wün­schen erzählt.«
»Na, das hat sich zum Glück er­le­digt. Jetzt bist du frei und musst hier nicht mehr ver­sau­ern.« Ashley boxt Kira auf­mun­ternd gegen die Schul­ter und lä­chelt sie vor­sich­tig an.
»Stimmt. Nun ist alles anders, des­halb muss ich drin­gend weg. Die USA wären genau das Rich­ti­ge – weit genug weg und trotz­dem nicht das Ende der Welt. Das Leben hat mir wieder einmal ge­zeigt, dass es ab­so­lut nichts für mich übrig hat.«
Kiras Selbst­be­wusst­sein schmollt zwar schon wieder im Keller, aber sie ist end­lich bereit, Nägel mit Köpfen zu machen. Sie hat nichts mehr zu ver­lie­ren, es kann nur noch besser werden. Mit einem Mal hat sie keine Angst mehr davor, mit den Eltern zu reden. Sie zückt ihr Handy. »Ich ruf jetzt zu Hause an.«
»Genau. Erzähl es ihnen. Der Tag ist oh­ne­hin schon für›n Arsch. So geht›s dir we­nigs­tens nur einmal dreckig.«
Trotz der be­schis­se­nen Lage muss Kira lä­cheln. Auf­ge­mun­tert von Ash­leys Worten wählt sie die Nummer ihrer Eltern. Schon nach dem ersten Klin­geln hebt ihre Mutter ab.
»Hi Mom, ich bin›s, Kira.«
Ihr blei­ben die Worte fast im Hals ste­cken. Was sie zu sagen hat, wird für ihre Eltern nicht ein­fach zu ver­ar­bei­ten sein. Aber sie er­kennt nun ganz klar, was sie wirk­lich will. Und ganz sicher möchte sie nicht ihr Leben im el­ter­li­chen Hotel fristen.
»Es tut mir leid Mom, aber ich muss dir etwas Wich­ti­ges sagen. Ich hab mich für ein paar Stel­len be­wor­ben, unter an­de­rem für eine in den USA. Ich will erst einmal nicht in un­se­rem Hotel ar­bei­ten. Ich möchte Er­fah­run­gen sammeln.«
Am an­de­ren Ende der Lei­tung bleibt es still. Kira be­fürch­tet schon, dass ihre Mutter ein­fach auf­ge­legt hat, da ver­nimmt sie einen lauten Seufzer.
»Das muss ich jetzt erst ver­dau­en, mein Mäus­chen. Komm nach Hause, dann reden wir dar­über. Paps und ich werden dich in allem un­ter­stüt­zen, was dich glück­lich macht. Auch wenn wir uns etwas an­de­res ge­wünscht haben. Wir lieben dich und egal wofür du dich ent­schei­dest, wir werden hinter dir stehen.«


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Kapitel 2

So schlech­te Laune wie heute hatte Ryan schon lange nicht mehr. Auf dem Schreib­tisch sta­peln sich die Be­wer­bun­gen. Ei­gent­lich sollte er über die Re­so­nanz auf die Stel­len­an­zei­ge froh sein, aber ko­mi­scher­wei­se ist keiner der Be­wer­ber wirk­lich ge­eig­net für die Stelle. Lust­los nimmt er die nächs­te Mappe in die Hand. Er würde jetzt viel lieber alles stehen und liegen lassen. Sehn­suchts­voll schaut er aus dem Fens­ter. Vom Büro aus kann er bis zu den Kop­peln sehen.
Das Hotel ist die eine Sache, die ihm seine Eltern hin­ter­las­sen haben, die Pferde die andere. Die Lei­den­schaft zu diesen Tieren hat er von der Mutter geerbt. Sie hatte ihre Pferde ab­göt­tisch ge­liebt. Es war ihre Idee ge­we­sen, das brach­lie­gen­de Land hinter dem Hotel nicht zu einem Golf­platz um­zu­bau­en, son­dern darauf Pferde zu züch­ten. Obwohl sein Vater die Be­geis­te­rung nicht teilte, konnte sie ihn über­zeu­gen. Die ersten drei Stuten hatte sie in Deutsch­land ge­kauft, decken und ein­flie­gen lassen. Im darauf fol­gen­den Früh­jahr spran­gen schon die Fohlen auf der Koppel herum, spä­tes­tens da hatte der Pfer­de­vi­rus auch seinen Vater gepackt.
Ryan schluckt ein paar Mal, um die Tränen zu un­ter­drü­cken. Der Schmerz sitzt noch immer viel zu tief.
Vor elf Jahren hatte seine Mutter sich end­lich den Traum von einem ei­ge­nen Deck­hengst er­füllt. Black­storm, ein wun­der­schö­ner, vier­jäh­ri­ger Ol­den­bur­ger zog auf der Farm ein. Von Anfang an war es sein Pferd ge­we­sen und schon nach kurzer Zeit waren sie ein ein­ge­spiel­tes Team. Er nahm mit dem Hengst an ei­ni­gen Tur­nie­ren teil. Da er dabei recht er­folg­reich war, be­schlos­sen seine Eltern, ihn zum Trai­nie­ren nach Europa zu schi­cken. Bei einem ihrer Be­su­che pas­sier­te dann der schreck­li­che Au­to­un­fall, bei dem er Mutter und Vater verlor. Black­storm hat den Unfall über­lebt. Kör­per­lich war dem Pferd fast nichts ge­sche­hen, aber seine Seele hatte er­heb­li­chen Scha­den ge­nom­men. Seit­her ist er un­be­re­chen­bar und gefährlich.
Ein rie­sen­gro­ßer Kloß steckt ihm im Hals. Ryans Brust fühlt sich an, als wäre sie mit einer schwe­ren Ei­sen­ket­te zu­ge­schnürt. Er spürt den Schmerz immer noch ge­nau­so stark wie am ersten Tag. Und dieser Schmerz kommt mit voller Wucht immer wieder, jedes Mal, wenn er bei den Pfer­den ist. Aus diesem Grund ver­mei­det er, so gut es geht, in die Stal­lun­gen zu gehen. In einen Sattel ist er seit Ewig­kei­ten nicht gestiegen.
Su­chend schweift sein Blick über die Wiese. Unter einem Baum ent­deckt er ihn end­lich. Black­storm steht mit ge­senk­tem Kopf fried­lich da und grast. Der schwar­ze Hengst ist immer noch ein pracht­vol­les Tier und hat er­folg­reich einige Fohlen ge­zeugt. Leider ver­traut er nie­man­dem mehr. Da er keinen Men­schen mehr in die Nähe lässt, steht er seit zehn Jahren al­lei­ne auf der Koppel. Es war nicht leicht, ihn wieder aus Europa hier­her zu brin­gen, er musste die ganze Zeit über be­täubt werden. Damals hatten ihm viele ge­ra­ten, sich von dem Tier zu tren­nen. Keiner sah einen Sinn darin, den Hengst am Leben zu lassen, da er in ihren Augen so­wie­so ver­dor­ben war. Doch ihn ein­fach zu töten, das kam für Ryan nicht in­fra­ge. Der Rappe ist das Ein­zi­ge, das ihm von den glück­li­chen Zeiten mit seinen Eltern ge­blie­ben ist.
Nun ist es an der Zeit, sich den Dä­mo­nen zu stel­len. Er muss sich end­lich um Black­storm küm­mern. Schließ­lich hat er sich ge­schwo­ren, nicht auf­zu­ge­ben, bis der Rappe ihm aber­mals ver­traut. Er wird alles ver­su­chen, um wieder einen Zugang zu dem Hengst zu finden. Seuf­zend lenkt er die Ge­dan­ken zu seiner Auf­ga­be zurück. Er muss drin­gend je­man­den finden, in dessen Hände er später die Lei­tung des Hotels legen kann. Schwe­ren Her­zens wendet er sich wieder den Be­wer­bun­gen zu und sieht sich Mappe für Mappe an.
Nervös dreht er an seinem sil­ber­nen Ring – ein An­denken an den Vater – und kaut auf der Un­ter­lip­pe. Immer wieder zieht er sie durch die Zähne. Das macht er oft, wenn er sich nicht wohl­fühlt oder auf­ge­regt ist. Schließ­lich legt er nach­denk­lich das Kinn auf seine zu einer Faust ver­schränk­ten Hände. Die einen haben zu wenig Er­fah­rung, die an­de­ren sind zu alt. Er will ein junges Team um sich herum haben. Darin be­steht sein Haupt­pro­blem: Je­man­den zu finden, der jung ist, aber trotz­dem die Auf­ga­ben meis­tern kann. Diese Kom­bi­na­ti­on ist fast un­mög­lich. Er sucht nach der be­sag­ten Nadel im Heuhaufen.

* * *

»Guten Morgen, Ryan. Hier habe ich noch einige Be­wer­bun­gen für dich.«
Mila kommt – nein, sie tanzt – ins Büro und knallt ihm ein paar Mappen auf den Tisch. Seine Schwes­ter ist wie immer schreck­lich gut ge­launt, auch so früh am Morgen. Er ver­dreht die Augen. Nimmt es denn nie ein Ende? Wie er­schla­gen sitzt er am Schreib­tisch und reibt sich nervös den Nacken. Er kann es nicht aus­ste­hen, im Büro ein­ge­sperrt zu sein.
»Jetzt mach doch nicht so ein Ge­sicht. Sei doch froh, dass es so viele sind. Da ist sicher jemand dabei, der deinen hohen Er­war­tun­gen entspricht.«
Sie grinst ihn an und legt die Hand auf seine Schul­ter. Mila weiß genau, wie sehr es ihr Bruder hasst, Bü­ro­ar­bei­ten zu er­le­di­gen. Im­mer­hin hat sie des­halb die letz­ten Jahre diese Auf­ga­be erledigt.
»Mila, du hast mich in diese Si­tua­ti­on ge­bracht, als du dich dazu ent­schlos­sen hast, mich hängen zu lassen.«
Vor­wurfs­voll ruht sein Blick auf ihr. Seine Schwes­ter hat vor, nach Key Largo zu ziehen. Dort hat sie vor Kurzem einen Job in einem Na­tio­nal­park er­gat­tert. Zwei ihrer zu­künf­ti­gen Mit­ar­bei­ter hatten ein paar Tage bei ihnen im Blackstone ver­bracht und zu­fäl­lig die freie Stelle er­wähnt. Kurz darauf hatte sie einen Vor­stel­lungs­ter­min und wurde an­ge­nom­men. Seit­her ist sie mit den Ge­dan­ken wo­an­ders. Sie sehnt sich danach, end­lich wieder als Bio­lo­gin zu ar­bei­ten. Ihr fehlt die Arbeit mit den Tieren.
»Du weißt genau, dass das hier nur als Über­gangs­lö­sung ge­dacht war, bis du voll­jäh­rig bist. Ich bin schon viel zu lange ge­blie­ben. Ryan, ich habe nicht vor, hier ewig zu versauern.«
Trau­rig schaut sie ihn an. Ihr ist dieser Schritt nicht leicht ge­fal­len. Des­halb hat sie auch so lange damit ge­war­tet. Doch wenn sie jetzt nicht geht, würde sie so schnell nicht mehr von dem Hotel los­kom­men. Au­ßer­dem ist ihr der neue Job wirk­lich wichtig.
»Es wird Zeit, dass du dein Leben selbst in die Hand nimmst. Du kommst damit klar, ich weiß es.«
Nach dem Unfall der Eltern hat Mila den Job in der For­schungs­sta­ti­on auf­ge­ge­ben. Nur so konnte sie sich um den jün­ge­ren Bruder und den el­ter­li­chen Be­trieb küm­mern. Jetzt aber soll Ryan ihn end­lich al­lei­ne führen. Im­mer­hin ist er mitt­ler­wei­le fünf­und­zwan­zig, hat sein Stu­di­um vor zwei Jahren er­folg­reich ab­ge­schlos­sen und leis­tet seit­her so­wie­so die Hauptarbeit.
Mila atmet tief ein und kann einen lauten Seuf­zer nicht un­ter­drü­cken. In den letz­ten zehn Jahren hat er es ihr nicht immer leicht ge­macht. Schon ein paar Mal war sie kurz davor, alles hin­zu­schmei­ßen. Oft war sie so ver­zwei­felt, dass sie glaub­te, mit der Ver­ant­wor­tung nicht zu­recht­zu­kom­men. Für Ryan war es die schlimms­te Zeit seines Lebens ge­we­sen, wofür sie durch­aus Ver­ständ­nis hatte. Im­mer­hin war er damals vor Ort, als es ge­schah, und musste alles live mit ansehen.
Das war ihr zum Glück er­spart ge­blie­ben. Trotz­dem war selbst für sie die Tat­sa­che, an einem Tag Vater und Mutter zu ver­lie­ren, schwer zu ver­ar­bei­ten. Und an dem Tag hat sie genau ge­nom­men auch den Bruder ver­lo­ren. Als er aus Europa zu­rück­kam, war er nicht mehr der Ryan, den sie kannte. Nichts war von dem le­bens­fro­hen, un­be­küm­mer­ten Teen­ager übrig ge­blie­ben. In seinen Augen fehlte das schel­mi­sche Fun­keln, das sie so sehr ge­liebt hatte.
Er hat eine dicke Mauer um sich herum auf­ge­baut und war seit­her ver­schlos­sen und lau­nisch. Nie­mand durfte ihm zu nahe kommen, und er re­agier­te auf alles mit Ab­leh­nung. An­dau­ernd drehte er wegen jeder Klei­nig­keit durch. Immer wieder musste sie ihn damals bei der Po­li­zei ab­ho­len, weil er sich fast bis zur Be­sin­nungs­lo­sig­keit be­trun­ken oder ge­prü­gelt hatte. We­nigs­tens hatte sie nie Drogen bei ihm ge­fun­den. Diese Zeiten sind zum Glück vorbei, wobei sie die Mauer bis heute nicht zum Ein­sturz brin­gen konnte. Nichts kann ihn dazu be­we­gen, mit Mila über das schreck­li­che Er­leb­nis zu reden. Trau­rig be­trach­tet sie ihren klei­nen Bruder.
»Mila, dass ich das gerade nicht ernst meinte, das weißt du doch, oder?«, ent­schul­digt er sich bei ihr, »Obwohl ich nichts da­ge­gen hätte, wenn du hier blei­ben würdest.«
Er sieht Mila treu­her­zig an und macht einen Schmoll­mund. Ryan weiß ganz genau, wie er seine Schwes­ter um den Finger wi­ckeln kann. Sie schüt­telt la­chend den Kopf. Es ist ihr durch­aus be­wusst, wie sehr ihr Bruder an ihr hängt. Schließ­lich fühlt sie ge­nau­so. Doch es wird nun Zeit, dass jeder seinen ei­ge­nen Weg geht. Was na­tür­lich nicht heißen soll, dass sie ganz aus seinem Leben ver­schwin­den wird.
»Keine Chance, Brü­der­chen, mein Ent­schluss steht fest. Du hast noch sechs Wochen. Bis dahin soll­test du je­man­den für die Stelle ge­fun­den haben. Je eher desto besser, dann kann ich, wie ich es dir ver­spro­chen habe, den­je­ni­gen noch einweisen.«
Sie stellt sich hinter ihn, legt ihm die Hände auf die Schul­tern und mas­siert sie mit sanf­tem Druck. Ge­nüss­lich schließt er die Augen und lässt den Kopf nach vorne fallen. Mila wird es leicht ums Herz. We­nigs­tens er­trägt er mitt­ler­wei­le wieder ihre Be­rüh­run­gen. Nicht nur das. Er hält sie nicht nur aus, son­dern kann sich sogar dabei ent­span­nen. Es hat eine lange Zeit ge­braucht, bis sie ihn wieder in die Arme schlie­ßen durfte.
»Es ist nicht ein­fach, Ersatz für dich zu finden«, be­merkt er leise.
Mila knetet grin­send weiter, ihr Plan scheint auf­zu­ge­hen. Was Ryan nicht weiß ist, dass sie ihm die besten Be­wer­bun­gen vor­ent­hält. Er ist kurz davor, die Geduld zu ver­lie­ren. Um das zu be­schleu­ni­gen, gießt sie noch ein wenig Öl ins Feuer.
»Du kannst es ja auch mit Olivia versuchen.«
Sie wu­schelt ihm durch die Haare, obwohl sie weiß, dass er das nicht leiden kann. Wie er­war­tet schnaubt er laut.
»Olivia ist die Letzte, die ich nehmen würde.«
Ryan be­kommt schon Kopf­schmer­zen, wenn er nur an sie denkt. Wenn sie nicht die Schwes­ter seines besten Freun­des wäre, hätte er ihr längst Ho­tel­ver­bot er­teilt. Sie raubt ihm manch­mal den letz­ten Nerv. Er kann es nicht leiden, wenn ihn jemand an­schmach­tet. Und Olivia ist be­son­ders gut im An­schmach­ten. An­dau­ernd hat sie dieses dümm­li­che Grin­sen im Ge­sicht, wenn er in der Nähe ist. Und immer wieder muss er ihre Hände ab­weh­ren, da sie die Finger nicht von ihm lassen kann und stän­dig ver­sucht, ihn an­zu­tat­schen. Au­ßer­dem kann er kein ver­nünf­ti­ges Ge­spräch mit ihr führen, da sie immer seiner Mei­nung ist. Er und Olivia? Ein ab­so­lu­tes ›No Go‹. Er würde es keine Woche, noch nicht einmal einen Tag mit ihr aus­hal­ten. Dass sie zwi­schen­durch im Hotel aus­hilft, ist eine Sache, aber jeden Tag, das würde nie im Leben funk­tio­nie­ren. Er spürt, wie er eine Gän­se­haut be­kommt, und es schüt­telt ihn leicht.
»Mila, ich drehe hier noch durch, kannst du nicht eine Vor­auswahl für mich treffen?«
Genau auf die Frage hat Mila ge­war­tet. Jetzt hat sie ihn dort, wo sie ihn haben will. Nun würde sie ihren Plan mit Leich­tig­keit in die Tat umsetzen.
»Komm, gib schon her, ich schaue sie mir an. Gib mir eine Stunde, bis dahin sollte ich durch sein. Wir tref­fen uns am Pool.«
Ryan atmet er­leich­tert auf. Dass er Mila so schnell über­re­den konnte, kommt ihm zwar etwas ko­misch vor, aber er ist zu dank­bar, um länger dar­über nach­zu­den­ken. Über­glück­lich sta­pelt er die Be­wer­bun­gen und gibt sie der Schwes­ter. Mila schnappt sich die Mappen und ver­schwin­det ohne ein wei­te­res Wort aus dem Büro. In ihren Augen blitzt es ver­däch­tig. Zum Glück hat ihr Bruder genau so re­agiert, wie sie es er­war­tet hat. Sie hat schon vor Tagen fünf Be­wer­bun­gen aus­sor­tiert, die sie Ryan nun vor­set­zen will, und nur eine davon sollte ihn wirk­lich an­spre­chen. Das ist ihre ein­zi­ge Chance, Ein­fluss auf die Be­set­zung der Stelle zu nehmen. Sie muss ihm das Gefühl geben, die Ent­schei­dung selbst ge­trof­fen zu haben, sonst wird Ryan jeden Vor­schlag als Be­vor­mun­dung an­se­hen und sofort ab­leh­nen. Bei der Aus­wahl, die sie ihm gleich geben wird, dürfte das jedoch kein großes Pro­blem sein.
Zu­frie­den liegt Mila kurze Zeit später in ein Buch ver­tieft am Pool. Wenn Ryan wüsste, was sie aus­ge­heckt hat, würde er nie mehr mit ihr reden. Es dauert nicht lange, da sieht sie ihren klei­nen Bruder auch schon kommen. Wie immer zieht er sämt­li­che Blicke der Frauen auf sich. Ryan wird mal da und mal dort von den weib­li­chen Gästen auf­ge­hal­ten und kurz in ein Ge­spräch ver­wi­ckelt. Mila be­ob­ach­tet die Szene grinsend.
»Mädels, an meinem Bruder beißt ihr euch alle die Zähne aus«, schmun­zelt sie.
Ryan gibt sich char­mant, bleibt aber immer höf­lich auf Ab­stand. Nach ein paar Mi­nu­ten hat er sich end­lich bis zu seiner Schwes­ter durch­ge­boxt und lässt sich stöh­nend neben ihr auf der Liege nieder.
»Du hast ja mal wieder allen Damen den Kopf ver­dreht, wie ich sehe«, be­grüßt sie ihn.
»Und bist du fündig ge­wor­den, Schwes­ter­chen?« Ryan über­hört die An­spie­lung und mus­tert in­ter­es­siert die Mappen auf dem Tisch.
»Ich glaube schon, wobei du recht hast, es sind nicht viele dabei, die zu uns passen.«
Mila be­ob­ach­tet ver­stoh­len, wie er sich die erste Mappe nimmt. Sie hat mit Ab­sicht lauter Leute aus­ge­sucht, die zwar von der Qua­li­fi­ka­ti­on her auf die Stelle passen, aber op­tisch oder al­ters­mä­ßig nicht in­fra­ge kommen. So hat Ryan keine andere Wahl, als sich für die letzte Be­wer­bung zu entscheiden.
Nach­dem Ryan die ersten vier ent­täuscht weg­ge­legt hat, schlägt er frus­triert die letzte Mappe auf. Ein hüb­sches, blon­des Mäd­chen mit licht­blau­en Augen lacht ihm ent­ge­gen. Mit einem schnel­len Blick auf die Al­ters­an­ga­be klappt er ent­täuscht auch diese Mappe wieder zu. Sie ist erst drei­und­zwan­zig Jahre alt. Zu jung. Was hat Mila sich dabei ge­dacht? Er hält ihr die Un­ter­la­gen hin.
»Was willst du mit dem Zu­cker­püpp­chen hier?«
»Lies es dir doch erst einmal ge­nau­er durch. Ich weiß, dass sie noch ver­dammt jung ist. Aber sie könnte trotz­dem qua­li­fi­ziert genug sein.«
Mila zuckt schein­bar gleich­gül­tig die Schul­tern, obwohl ihr Herz vor Auf­re­gung wie ver­rückt klopft. Er­staunt hebt er eine Au­gen­braue, um dann noch einmal die Un­ter­la­gen in Au­gen­schein zu nehmen.
»Das ist jetzt nicht dein Ernst, oder?«, rutscht es ihm heraus und er sieht seine Schwes­ter un­gläu­big an. »Mila, sie kommt gerade erst von der Uni. Ich glaube nicht, dass das eine gute Wahl ist.«
»Warum nicht?«
»Weil ich keine Zeit habe, mich mit klei­nen Mäd­chen zu be­schäf­ti­gen. Ich brau­che Hilfe, nicht noch mehr Arbeit.« Seine Stimme klingt trot­zig, und kurz sieht sie den fünf­zehn­jäh­ri­gen, heiß­blü­ti­gen Jungen von damals in seinen Augen auf­blit­zen. »War sonst nie­mand dabei, der ge­eig­ne­ter ist?«
»Ryan, ich habe dir her­aus­ge­sucht, was meiner Mei­nung nach in­fra­ge kommt. Aber du kannst gerne noch­mals alle Be­wer­bun­gen selbst durch­schau­en, ich habe sie in meinem Büro.«
»Das sollte ich viel­leicht wirk­lich tun.« Seine Ant­wort ist patzig, und Mila schüt­telt trau­rig den Kopf. Das läuft gerade nicht so, wie sie es ge­hofft hatte.
»Reg dich ab. Wenn du der Mei­nung bist, dass sie nicht die­je­ni­ge ist, der du die Stelle geben möch­test, dann nimm jemand an­de­res. Das ist jetzt deine Sache. Ich mische mich da nicht mehr ein.«
Sie setzt ihre Son­nen­bril­le auf und gibt ihm damit zu ver­ste­hen, dass sie dar­über nicht weiter strei­ten möchte. Mila kennt ihren Bruder gut genug, um zu wissen, dass sie jetzt einen Rück­zie­her machen muss, um doch noch zu punk­ten. Jedes wei­te­re Ar­gu­ment würde nur das Ge­gen­teil bewirken.
»Ich hole dir die an­de­ren Un­ter­la­gen. Und frag mich bitte nie mehr um meine Mei­nung. Ich habe keine Lust mich von dir an­schnau­zen zu lassen.«
»Werde ich sicher auch nicht mehr tun.« Seine Stimme klingt be­droh­lich. Seine Augen sind dunkel, es sieht fast so aus, als ob ein ge­wal­ti­ger Sturm in ihnen tobt. Mila merkt, wie die Wut in ihm hoch­kocht. Sie blickt bis heute nicht durch, wann und warum seine Stim­mung um­schlägt. Sie weiß nur, wenn sie jetzt nicht geht, würde sie es be­reu­en. Er würde zwar nicht hand­greif­lich werden, aber es würde in einem häss­li­chen Streit enden. Des­halb schnappt sie sich ihr Hand­tuch und lässt ihren Bruder ein­fach stehen.
Ryan ver­schränkt die Arme vor der Brust und be­ob­ach­tet mit fins­te­rer Miene, wie sie im Hotel ver­schwin­det. Er ist sich sicher, dass Mila ihm heute Abend den Aus­bruch vor­hal­ten wird. Er wird sich etwas ein­fal­len lassen müssen, um sie zu be­sänf­ti­gen. Dass er gerade die Fas­sung ver­lo­ren hat, tut ihm leid. Es ist nur so frus­trie­rend, dass bei den vielen Be­wer­bun­gen nichts Pas­sen­des dabei ist. Als Mila ihm dann auch noch dieses blut­jun­ge Mäd­chen un­ter­ju­beln wollte, hat er rot gesehen.
»Was findet Mila nur an ihr?«, rät­selt er. »So jung, wie sie ist, kann sie doch gar nicht in­fra­ge kommen.«
Nach­denk­lich öffnet er noch einmal die Mappe. Ge­dan­ken­ver­lo­ren be­trach­tet er ihr Foto. Plötz­lich hat er das Gefühl, dass ihre Augen ihn durch­drin­gen. Sie schei­nen in Tiefen ein­zu­tau­chen, in die er noch nie­man­den hin­ein­ge­las­sen hat. Ver­wirrt starrt er das Foto an. Ei­ner­seits wurde er von ihrem Blick ma­gisch an­ge­zo­gen, an­de­rer­seits spürt er eine ge­wis­se Gefahr von ihr aus­ge­hen. Doch genau das reizt ihn, macht ihn neu­gie­rig. Er blät­tert die Un­ter­la­gen durch und be­ginnt zu lesen. Kira Elena Tinson aus Ös­ter­reich. Eine Be­wer­bung aus Europa. Damit hat er nicht ge­rech­net. Ge­spannt liest er weiter und stellt fest, dass sie mehr als nur vom Fach ist.
»OK, Mila hat sich doch etwas dabei ge­dacht«, mur­melt er vor sich hin.
Sein be­ruf­li­ches In­ter­es­se ist nun eben­falls ge­weckt. Dass sie aus dem Ho­tel­ge­wer­be stammt und damit groß ge­wor­den ist, macht sie viel qua­li­fi­zier­ter als andere, auch deut­lich ältere Be­wer­ber. Au­ßer­dem können sich ihre Aus­bil­dung und Zeug­nis­se sehen lassen. Das alles und die Tat­sa­che, einmal live in diese sa­phir­blau­en Augen sehen zu wollen, führen dazu, dass ihm die Ent­schei­dung plötz­lich sehr leicht fällt. Mit einem lauten Seuf­zer schließt er die Mappe und steht auf. Mila hat mal wieder recht gehabt. Dieses Mäd­chen ist sehr wohl eine gute Wahl.
Ryan findet seine Schwes­ter in ihrem Büro, wo sie schmol­lend am Com­pu­ter sitzt. Lässig lehnt er sich an den Tür­rah­men und klopft zö­ger­lich an die Glas­schei­be. Mit einem bit­ter­bö­sen Blick starrt sie ihn an.
»Was?«
»Darf ich rein­kom­men? Ich habe mir die Un­ter­la­gen noch einmal angesehen.«
»Und was willst du jetzt von mir?«
»Ich wollte dir nur sagen, dass ich mich für einen von deinen fünf Vor­schlä­gen ent­schie­den habe.«
Mila hält vor Schreck die Luft an. Jetzt kann sie nur hoffen, dass er rich­tig ge­wählt hat. »Und wer soll es nun sein?«
»Ich denke, ich werde es mal mit dem Mäd­chen aus Ös­ter­reich pro­bie­ren. Ich muss zu­ge­ben, dass ihre Vor­aus­set­zun­gen gar nicht so schlecht sind.«
Mila atmet er­leich­tert aus, den Rest muss sie nun­mehr dem Schick­sal über­las­sen. Wenn ihr Freund rich­tig liegt und Kira wirk­lich so ist, wie er sie be­schrie­ben hat, würde ihre Rech­nung aufgehen.
»Schön«, sagt sie knapp.
»Mehr hast du dazu nicht zu sagen? Ich dachte, du woll­test un­be­dingt die Stelle mit ihr besetzen.«
Mila grinst, denn so ist es auch, aber das wird sie ihrem Bruder sicher nicht auf die Nase binden. Also schaut sie ihn ge­las­sen an und be­merkt spöt­tisch: »Mir ging es nur gegen den Strich, dass du meine Ent­schei­dung als hirn­ris­sig ab­ge­tan hast. Du soll­test mich besser kennen.«
»Tut mir leid Schwes­ter­chen. Ich mach›s auch gut. Wie wäre es mit einem Besuch in Disney World? Wir waren schon so lange nicht mehr dort.«
Ryan ist sicht­lich ge­knickt, des­we­gen nickt Mila be­sänf­tigt. Disney eignet sich be­son­ders gut, um sie gnädig zu stim­men. Au­ßer­dem würde ein freier Tag auch Ryan gut tun.
»Kannst du für mich her­aus­fin­den, wie spät es in Europa ist? Viel­leicht kann ich noch heute te­le­fo­nisch zu­sa­gen«, bittet Ryan vorsichtig.
»Dort ist es gerade kurz nach Mittag, du kannst also ge­trost anrufen.«
»Gut, dann mache ich das gleich.«
Ryan geht in sein Büro und wählt die an­ge­ge­be­ne Nummer. Es kommt ihm wie eine halbe Ewig­keit vor, bis end­lich jemand abhebt.


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Kapitel 3

Zit­ternd legt Kira das Te­le­fon auf den Tisch. Ihre Hände sind schweiß­nass und ihr Herz klopft ihr bis zum Hals. Als auch noch ihre Beine drohen, nach­zu­ge­ben, lässt sie sich kraft­los in einen Sessel plump­sen. Sie kann immer noch nicht fassen, was gerade pas­siert ist.
»Schei­ße, bin ich gerade wach? Oder träume ich?«, schießt es ihr durch den Kopf.
»Alles in Ord­nung, Schatz?« Kiras Mutter sieht sie be­sorgt an, wie sie es schon das ganze Te­le­fo­nat über getan hat. Vor­sich­tig stellt sie ihrer Toch­ter die nächs­te Frage. »War das gerade ein Anruf aus Flo­ri­da? Du bist ganz weiß im Ge­sicht. Du hast doch nicht etwa eine Absage be­kom­men?« Sie geht vor ihrem Mäd­chen in die Hocke und legt die Hände auf Kiras Knie. Kira ki­chert hys­te­risch und schüt­telt den Kopf.
»Nein Mom, ich hab die Stelle! Zwar erst mal nur für ein Jahr, aber ich habe sie«, haucht sie. »Kannst du mich mal zwi­cken, damit ich sicher sein kann, dass ich nicht träume?«
Ihrer Mutter fällt die Kinn­la­de her­un­ter, dann fängt auch sie an zu lachen und drückt Kira fest an sich. »Mensch Mäus­chen, das ist doch toll. Das hast du dir doch so gewünscht.«
»Er will mir noch heute einen Flug buchen. Ich soll in vier­zehn Tagen rü­ber­flie­gen.« Kira ist total aus dem Häus­chen und be­merkt nicht, dass ihre Mutter sie ent­setzt ansieht.
»So schnell schon? Ich dachte, du bleibst we­nigs­tens noch diesen Sommer bei uns.«
Kira schüt­telt den Kopf. Lang­sam be­ru­higt sie sich etwas und hört auf zu zit­tern. »Er wollte, dass ich sofort komme. Ich konnte nur mit Mühe und Not noch ein paar Tage raus­schla­gen«, er­klärt sie.
»Dann wirst du dort wohl drin­gend ge­braucht. Lass uns das gleich Papa erzählen.«
»Mach du das bitte, ich muss auf der Stelle Ashley an­ru­fen.« Hastig springt Kira auf, schnappt sich ihr Handy und ver­zieht sich in ihr Zimmer. Vor Auf­re­gung fällt ihr beim Wählen fast das Te­le­fon aus der Hand. Un­ru­hig tigert sie in ihrem Zimmer herum, bis Ashley end­lich abhebt.

* * *

»Hi Kira. Jetzt lass mich doch mal te­le­fo­nie­ren, Jens.«
Kira hört ein Ki­chern im Hin­ter­grund. Ashley ist seit ei­ni­gen Tagen mit ihrem Freund im Urlaub.
»Hau schon ab und hol uns was zu trin­ken. Tut mir leid, Kira, aber jetzt bin ich ganz Ohr.«
»Ashley, sitzt du gerade?«, fragt Kira ungeduldig.
»Nee, ich liege am Pool. Was ist los?«
»Ich hab eben mit Ryan Dea­ring te­le­fo­niert«, er­klärt Kira geheimnisvoll.
»Und? Muss ich den kennen?« Ashley klingt ge­nervt und Kira fällt es schwer, ruhig zu bleiben.
»Hm, ich dachte, es in­ter­es­siert dich viel­leicht. Ihm gehört das Blackstone. Ich soll für ihn arbeiten.«
Ashley kreischt so laut ins Te­le­fon, dass Kira es arm­lang von sich weg hält, um nicht einen Ge­hör­scha­den zu be­kom­men, »Ver­arsch mich nicht. Du hast den Job? Du hast die Traum­stel­le in Florida?«
Kira wartet, bis ihre Freun­din end­lich Luft holt. »Ja, in zwei Wochen geht›s los. Wann kommst du zurück? Sehen wir uns noch, bevor ich fliege?«
»In zehn Tagen. Ich freue mich so für dich. Und was hast du für einen Ein­druck? Was hat er für eine Stimme? Was hat er er­zählt?« Ashley plap­pert ohne Punkt und Komma. Man könnte fast meinen, sie hätte den Job be­kom­men und nicht Kira, so auf­ge­regt ist sie.
»Nicht viel, nur, dass seine Schwes­ter aus dem Hotel aus­steigt und des­halb die Stelle frei ge­wor­den ist. Ich möchte nicht wissen, was er jetzt von mir denkt«, stöhnt Kira, als sie sich das Ge­spräch mit Ryan Dea­ring ins Ge­dächt­nis zu­rück­ruft. »Viel­mehr als ›Yes‹ und ›OK‹ hab ich näm­lich nicht heraus be­kom­men. Ich hab mich so was von blamiert.«
Ashley ver­schluckt sich bei­na­he vor Lachen. »Das kann ich mir bei dir nicht vor­stel­len, du kannst doch super Eng­lisch. Du über­treibst wieder.«
»Tu ich gar nicht, ich hab mir vor Auf­re­gung fast in die Hose gemacht.«
»Ist doch egal, Kira. Du hast den Job be­kom­men. Jetzt kannst du zeigen, was du auf dem Kasten hast. Dann wird er schon merken, dass du un­schlag­bar bist. Warum musst du über­haupt so schnell an­tan­zen? Soll ich dich zum Flug­ha­fen bringen?«
»Ja, das wäre schön. Er meinte, seine Schwes­ter soll mich vor ihrer Ab­rei­se ein­ar­bei­ten, sie sei aber nur noch sechs Wochen da«, er­klärt Kira, als sie end­lich zu Wort kommt. »Ich möchte dich un­be­dingt noch einmal sehen, bevor ich nach Flo­ri­da fliege.«
»Du glaubst doch nicht, dass du ein­fach so ab­hau­en kannst?«
»Will ich auch gar nicht. Dann sehen wir uns, wenn du wieder da bist, und bis dahin ge­nie­ße deinen Urlaub.«
»Ich melde mich sofort, wenn ich zurück bin. Man, ich glaube es nicht.«
Kira hört noch, wie Ashley auf­ge­regt Jens die Neu­ig­keit mit­teilt, dann hat sie aufgelegt.

* * *

Kira lässt sich ver­dat­tert auf ihr Bett fallen und starrt an die Decke. Ver­träumt be­ob­ach­tet sie das Schat­ten­spiel an der Wand. Noch be­kommt sie die Neu­ig­keit nicht rich­tig in den Kopf. Sie schließt die Augen und ver­sucht sich die Bilder des Hotels in ihrer Er­in­ne­rung wach­zu­ru­fen. Da ihr das nur schwer ge­lingt, be­schließt sie, sich noch mal die Web­site an­zu­se­hen. Un­ge­dul­dig wartet sie, bis ihr Laptop hoch­ge­fah­ren ist, und gibt ›Blackstone‹ bei Google ein. Es dauert eine Weile, bis sie das rich­ti­ge Hotel ge­fun­den hat. Ins­ge­samt zwölf Hotels mit diesem Namen gibt es in den USA und noch­mals vier in an­de­ren Län­dern. Aufs Neue liest Kira Seite für Seite durch und be­trach­tet ge­dan­ken­ver­lo­ren die Fo­to­gra­fien. Sie hofft, In­for­ma­tio­nen über ihren Ar­beit­ge­ber zu finden, ent­deckt aber nichts Brauchbares.
Ryan Dea­ring ist zwar als Be­sit­zer und Ge­schäfts­füh­rer des Hotels an­ge­ge­ben, aber das ist auch schon alles. Nir­gend­wo steht etwas Ge­naue­res über ihn, nur dass er mit der Schwes­ter nach dem Tod ihrer Eltern den Be­trieb über­nom­men hat. Von den beiden gibt es auch keine Fotos. Ein biss­chen selt­sam findet Kira das schon. Warum gibt es keine Infos über die Zwei? Sie denkt gerade über mög­li­che Gründe nach, da meldet sich das E‑Mail-Pro­gramm. Neu­gie­rig öffnet sie ihr Post­fach. Jetzt hat sie es schwarz auf weiß. Eine Nach­richt von ihrem zu­künf­ti­gen Chef. Er hat tat­säch­lich wie ver­spro­chen direkt nach dem Ge­spräch ge­bucht. Jetzt bleibt ihr nichts an­de­res mehr übrig, als an ihr Glück zu glau­ben. Sie hat die Stelle wirk­lich bekommen.
»Also hab ich ihn mit meinem Ge­stot­te­re doch nicht ver­schreckt«, stellt sie er­staunt fest. Ihre Mund­win­kel zucken und ein Grin­sen zeich­net sich in ihrem Ge­sicht ab, das immer brei­ter und brei­ter wird.
»Ame­ri­ka, ich komme!«


An: Kira Tinson
Datum: 12.07.2012
Be­treff: Flugtermin

Miss Tinson,
ich freue mich über Ihre Zusage und er­war­te un­ge­dul­dig Ihre Ankunft.
Ich habe Ihnen, wie ver­spro­chen, einen Flug von Mün­chen nach Or­lan­do ge­bucht. Das E‑Ticket mit den Flug­da­ten finden Sie im Anhang. Wir werden Sie in Or­lan­do am Flug­ha­fen abholen.
Ich habe wäh­rend un­se­res Te­le­fo­nats ver­ges­sen zu er­wäh­nen, dass Ihnen Ihre Ar­beits­klei­dung selbst­ver­ständ­lich ge­stellt wird. Alles Wei­te­re be­spre­chen wir, wenn Sie an­ge­kom­men sind.

Ryan Dea­ring
Ge­ne­ral Ma­na­ger, Blackstone Ranch & Spa


»Wieso nach Or­lan­do? In Fort Myers gibt es auch einen Flug­ha­fen«, wun­dert sich Kira und run­zelt nach­denk­lich die Stirn. Da ihr beim besten Willen kein Grund ein­fällt, hört sie auf zu grü­beln und tippt schnell eine Antwort.


An: Ryan Dearing
Datum: 12.07.2012
Be­treff: Flugticket

Mister Dea­ring,
ich möchte Ihnen hier­mit mit­tei­len, dass ich Ihre E‑Mail er­hal­ten habe.
Das Ticket werde ich gleich ausdrucken. 
Vielen Dank, dass Sie die Kosten für meinen Flug übernehmen.
Ich freue mich auf meine Auf­ga­ben in Ihrem Hotel.

Kira Tinson


Vor­freu­de über­kommt Kira. Vor­freu­de auf die neuen Ein­drü­cke und Er­fah­run­gen, die sie in Flo­ri­da sam­meln wird. Dass sie gänz­lich ins Un­be­kann­te auf­bre­chen wird, ver­ur­sacht ihr den­noch Bauchschmerzen.
»Warum zum Ku­ckuck finde ich nichts über meinen neuen Ar­beit­ge­ber?«, mur­melt sie und widmet sich wieder ihren Nachforschungen.
Viel möchte sie ja gar nicht wissen. Aber we­nigs­tens, wie er aus­sieht und wie alt er ist. Wenn doch nur Ashley hier wäre. Die wüsste genau, welche Schlüs­sel­wör­ter sie be­nut­zen müsste. Sie be­haup­tet immer, dass man im In­ter­net über jeden etwas finden könne. Aber ihre Freun­din liegt nun mal am Strand und lässt sich die Sonne auf den Bauch scheinen.
Ein lautes ›Pling‹ kün­digt eine er­neu­te E‑Mail an.


An: Kira Tinson
Datum: 12.07.2012
Be­treff: Ihre Antwort

Miss Tinson,
ich danke Ihnen für die Be­stä­ti­gung, dass meine Mail an­ge­kom­men ist. Soll­ten Sie in den nächs­ten Tagen noch Fragen be­züg­lich der Stelle haben, dürfen Sie mich gerne auf diesem Wege kontaktieren.
Sollte ich nichts mehr von Ihnen hören, wün­sche ich schon mal vorab einen guten Flug.

Ryan Dea­ring
Ge­ne­ral Ma­na­ger, Blackstone Ranch & Spa


Fragen? Ja, Fragen hätte sie da einige. Aber die Fragen, die ihr auf der Zunge bren­nen, kann sie ihm un­glück­li­cher­wei­se nicht stel­len. Sie kann ja schlecht schrei­ben: Könn­ten Sie mir ver­ra­ten, wie alt Sie sind? Oder noch besser: Schi­cken Sie mir doch einmal ein Foto von Ihnen. Oder viel­leicht: Sind Sie ver­hei­ra­tet und haben Sie Kinder?
Kira schüt­telt ge­nervt den Kopf, hastig tippt sie im Such­feld seinen Namen ein und drückt auf Enter. Leider führt auch das nicht zum er­wünsch­ten Erfolg. Es gibt ein­fach zu viele Ryan Dea­rings auf dieser Welt. Es macht wenig Sinn, jeden ein­zel­nen Link zu öffnen, das würde Stun­den dauern. Sie würde so nur durch einen großen Zufall an den Rich­ti­gen geraten.
»Mist. Es ist zum Haa­re­rau­fen. Warum gibt es nichts über ihn?«, flucht sie.
Kira gehen die Ideen aus. Frus­triert klappt sie den Laptop zu und be­schließt, sich über­ra­schen zu lassen. An und für sich kann es ihr ja auch egal sein, wie er aus­sieht und wie alt er ist. Sie soll schließ­lich für ihn ar­bei­ten und ihn nicht hei­ra­ten. Die Stimme ist ihr je­den­falls sehr sympathisch.
Jetzt, da sich die Auf­re­gung ein wenig gelegt hat, kommen ihr die ersten Zwei­fel. Hof­fent­lich hat sie die rich­ti­ge Ent­schei­dung ge­trof­fen. Was, wenn sie doch noch zu wenig Er­fah­rung hat? Wenn sie mit ihrer Auf­ga­be über­for­dert ist? Zum ersten Mal in ihrem Leben wird sie völlig auf sich al­lei­ne ge­stellt sein. Kira schüt­telt den Kopf. Nein, dar­über will sie jetzt nicht nach­den­ken. Jetzt ist es wich­ti­ger, dass sie in Win­des­ei­le ihre Sachen zu­sam­men­packt. Vier­zehn Tage sind schnell vorbei, und davor gibt es noch ei­ni­ges zu er­le­di­gen. We­nigs­tens muss sie sich nicht mehr um einen neuen Pass küm­mern. Den hat sie schon be­an­tragt, da sie ei­gent­lich noch ein paar Tage Urlaub machen wollte. Er lag vor einer Woche in der Post.
Kira wirft einen Blick in den Klei­der­schrank. Viel gibt er nicht her. Frus­triert ver­teilt sie den ge­sam­ten Inhalt in ihrem Zimmer. Zum Glück be­kommt sie für die Arbeit alles, was sie braucht. Ihr Koffer wird so­wie­so schon dick genug sein, auch wenn sie nur ihre Frei­zeit­be­klei­dung mit­nimmt. Wobei sie auch hier noch das eine oder andere Teil brau­chen könnte. Sie wird also um eine Shop­ping­tour nicht her­um­kom­men. Nach­denk­lich steht sie mitten im Zimmer, als ihr Vater an­klopft. Vor­sich­tig streckt er den Kopf zur Tür herein.
»Mom hat mir gerade die Neu­ig­keit er­zählt. Gra­tu­lie­re Mäus­chen. Ich freu mich so für dich, auch wenn du mir sehr fehlen wirst.« Er strahlt über beide Ohren.
Das liebt Kira an ihren Eltern. Sie würden ihr nie Steine in den Weg legen, egal ob sie ihre Ideen gut finden oder nicht. Sie haben sie immer er­mu­tigt, ihre Träume zu leben, auch wenn sie sich etwas ganz an­de­res er­hofft hatten.
»Was gibt das?« Ihr Vater run­zelt die Stirn und zeigt auf die Klamotten.
»Hab mal schnell In­ven­tur ge­macht«, seufzt Kira und rollt mit den Augen.
»Und? Alles da?« Er grinst wie ein Honigkuchenpferd.
»Ja, schon. Aber ich sollte noch ein­kau­fen gehen, bevor ich fliege.«
»Du weißt sicher, dass die Kla­mot­ten in den USA bil­li­ger sind, oder? Ab­ge­se­hen davon, wenn du doch noch un­be­dingt hier etwas be­sor­gen willst, ich fahre gleich in die Stadt. Du kannst gerne mitkommen.«
Er sieht seine Toch­ter so er­war­tungs­voll an, dass sie laut lachen muss. Kira schüt­telt den Kopf.
»Sorry Paps, nichts gegen deinen Ge­schmack, aber Kla­mot­ten gehe ich lieber mit Mom kaufen.«
»Meine Toch­ter will nicht mit mir ein­kau­fen gehen. Sie mag mich nicht mehr.« Ihr Vater ver­zieht be­lei­digt das Ge­sicht und schmollt. Dann holt er jedoch la­chend seine Brief­ta­sche hervor, zückt einen Fünf­hun­dert­eu­ro­schein und wedelt damit vor Kiras Nase. »Aber den hier nimmst du, oder? Zur Feier des Tages.«
Dank­bar fällt sie ihm um den Hals und drückt ihn ganz fest. Er er­wi­dert ihre Um­ar­mung und zieht sie an sich.
»Meine kleine Kira wird er­wach­sen. Wo ist die Zeit nur ge­blie­ben?«, flüs­tert er.

* * *

Kira fühlt sich vom Lärm und der Hektik am Flug­ha­fen wie er­schla­gen. Ihre neuen Kla­mot­ten sind zu­sam­men mit den an­de­ren Sachen sicher in dem großen, grauen Koffer ver­staut. Als Hand­ge­päck hat sie nur eine Tasche, in der sich außer Brief­ta­sche und Laptop ein wenig Not­be­klei­dung be­fin­det. Für den Fall, dass der Koffer ver­lo­ren geht, hat ihre Mutter gesagt. Ge­dan­ken ver­lo­ren reicht sie der Ste­war­dess ihr Ticket. Erst als diese zum zwei­ten Mal ihre Frage stellt, re­agiert Kira endlich.
»Haben Sie nur dieses eine Gepäckstück?«
Sie nickt wort­los. Die nette Dame hinter dem Tresen nimmt den Koffer ent­ge­gen und be­fes­tigt ein blaues Band daran. Dann gibt sie ihr die Ti­ckets zurück, lä­chelt und wünscht ihr einen guten Flug.
»Wie lange willst du blei­ben? Ich hatte für meinen Urlaub mehr Gepäck als du.« Ashley legt ihren Kopf schief und run­zelt ver­wun­dert die Stirn, dabei pustet sie ihre Haare aus dem Gesicht.
»Ashley, ich be­kom­me dort alles, was ich brau­che. In den USA gibt es auch Ge­schäf­te.« La­chend zieht Kira ihre Freun­din in die Arme. »Ver­dammt. Du wirst mir fehlen. Wenn du Urlaub hast, musst du mich un­be­dingt be­su­chen kommen, ver­sprich es mir.«
Ashley ver­dreht die Augen, dann schüt­telt sie be­dau­ernd den Kopf. »Sorry Süße, ich weiß nicht, ob ich mir das leis­ten kann. So ein Flug ist nicht gerade billig.«
Kira nickt trau­rig, sie hat na­tür­lich recht. Jetzt, da sie kurz davor ist, al­lei­ne ins Flug­zeug zu stei­gen, be­kommt sie es lang­sam doch mit der Angst zu tun.
»Mensch Ashley, ich hab Schiss.«
»Das wird schon klap­pen, du wirst sehen und wenn nicht, dann kommst du wieder heim.« Ashley boxt ihrer Freun­din auf­mun­ternd gegen die Schulter.
»Wir müssen un­be­dingt über Skype oder Face­book in Kon­takt blei­ben. Ich brau­che mit Si­cher­heit je­man­den zum Reden«, seufzt Kira.
»Klar Süße, das machen wir. Wenn du an­ge­kom­men bist, melde dich. Ich will wissen, wie deine neuen Ar­beits­kol­le­gen und dein neuer Chef sind.«
Es wird lang­sam Zeit für Kira an Board zu gehen, der Flug wird gerade auf­ge­ru­fen. Wieder über­kommt sie der Drang, nach Hause zu laufen und sich unter der Bett­de­cke zu ver­krie­chen. Plötz­lich ist sie sich nicht mehr so sicher, ob sie wirk­lich flie­gen will.
»Du soll­test gehen, Kira.« Die Augen ihrer Mom schim­mern verdächtig.
»Fang jetzt bloß nicht an zu heulen, Ste­fa­nie. Sonst bleibt unsere Kira wo­mög­lich noch da.« Auch Kiras Vater blin­zelt ver­rä­te­risch mit den Wimpern.
»Wenn ihr jetzt beide heult, bleib ich tat­säch­lich hier. Ich werde euch so vermissen«.
Als Kira ihre Eltern umarmt, haben alle drei Tränen in den Augen. Sanft schiebt sie ihr Vater von sich.
»Los jetzt, sonst flie­gen sie ohne dich«, drängt Kiras klei­ner Bruder Jason. Wobei klein in dem Fall jünger heißt, da er mit seinen sieb­zehn Jahren mitt­ler­wei­le schon einen Kopf größer ist als sie.
Da stehen sie: Mom, Paps, Jason und Ashley, die vier wich­tigs­ten Men­schen in Kiras Leben. Die Men­schen, auf die sie sich immer ver­las­sen kann, die immer für sie da sind. Und nun muss Kira min­des­tens ein Jahr lang ohne sie zurechtkommen.


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Kapitel 4

Fast drei­zehn Stun­den Flug liegen hinter Kira. Ihre Kla­mot­ten kleben an ihrem Körper, und sie ist total er­schöpft. Nervös wirft sie einen Blick auf die An­zei­ge­ta­fel. Es ist kurz nach 18 Uhr, somit ist das Flug­zeug pünkt­lich in Or­lan­do ge­lan­det. Su­chend wan­dert ihr Blick durch die An­kunfts­hal­le des Flughafens.
»Nach wem oder was suche ich ei­gent­lich?«, fragt sie sich im Stillen.
Wäh­rend des Zwi­schen­stopps in Char­lot­te hatte sie noch kurz Zeit die E‑Mails ab­zu­ru­fen. Ryan Dea­ring hat ihr mit­ge­teilt, dass er dafür sorgen werde, dass sie am Flug­ha­fen ab­ge­holt wird. Wer das jedoch sein wird, hat er mit keinem Wort er­wähnt. Da ent­deckt Kira eine schlan­ke, sport­lich ge­klei­de­te Frau mit kurzen, schwar­zen Haaren, in denen eine über­gro­ße Son­nen­bril­le steckt. Sie hat ein iPad in der Hand, auf dem ›Wel­co­me Kira‹ steht. Er­leich­tert schnappt sie ihren Koffer, der – bei ihrem sons­ti­gen Pech – wie durch ein Wunder nicht ver­lo­ren ge­gan­gen ist, und geht auf die Frau zu.
»Hallo, ich glaube Sie warten auf mich«, sagt Kira schüch­tern, »ich bin Kira Tinson.«
»Hi, Miss Tinson, will­kom­men in Flo­ri­da. Ist das alles, was Sie dabei haben? Ich dachte Sie wollen länger bei uns blei­ben.« Freund­lich nickt sie und zeigt be­lus­tigt auf Kiras Koffer.
»Ich möchte mich hier noch mit ein paar Sachen ein­de­cken«, ant­wor­tet Kira und zuckt mit den Schul­tern. Die Frage ent­lockt ihr ein un­si­che­res Grinsen.
»Na dann. Wollen wir?« Die Frau zeigt Rich­tung Aus­gang und nimmt Kira den Koffer aus der Hand. Ohne auf eine Ant­wort zu warten, läuft sie los. Aus ir­gend­ei­nem Grund kommt sie Kira sofort ver­traut vor. So, als würden sie sich schon jah­re­lang kennen. »Ich bin üb­ri­gens Mila Dea­ring, Ryans große Schwes­ter«, stellt sich die Schwarz­haa­ri­ge vor.
Kira stutzt. Hat sie gerade große Schwes­ter gesagt? Groß ist sie ja, aber meint sie das auch so? Oder sagt sie das, weil er jünger ist? Kira schätzt Mila auf Anfang Drei­ßig. Sie macht ein ver­dutz­tes Ge­sicht, und Mila schüt­telt sich vor Lachen. Fra­gend zieht Kira die Au­gen­braue hoch.
»Ich glaube, Sie und mein Bruder werden gut mit­ein­an­der aus­kom­men. An­schei­nend redet ihr beide nicht viel.«
Kira hat keine Ahnung, worauf sie hinaus will, und blickt Mila ratlos an.
»Ihrer Re­ak­ti­on nach gehe ich davon aus, dass mein Bruder nichts über sich er­zählt hat«, stellt Mila fest.
»Nein, hat er nicht.« Ko­mi­scher­wei­se fühlt Kira sich er­tappt und wird rot.
»Das ist wieder einmal so ty­pisch für mein Brü­der­chen«, prus­tet sie erneut los. »Sorry, aber dein Ge­sicht ist zu köst­lich, bitte sei nicht sauer.«
»Bin ich nicht.«
»Gut! Ich finde es üb­ri­gens sehr mutig, ein­fach ins kalte Wasser zu sprin­gen«, er­klärt Mila beeindruckt.
»Ich ver­ste­he nicht. Was meinen Sie?«
»Na, dass du, ohne ir­gend­et­was über deinen Ar­beit­ge­ber zu wissen, so weit weg von Zu­hau­se eine Stelle an­trittst. Was, wenn mein Bruder ein fieser, alter Sack wäre, der dir bei jeder Ge­le­gen­heit an die Wäsche will?«
Kira bleibt vor Schreck die Spucke weg, und Mila ki­chert schon wieder.
»Ich hoffe, du hast jetzt keine Angst be­kom­men, keine Sorge, so einer ist Ryan nicht. Und bitte sag Mila zu mir.«
»Wie ist er dann?«, fragt Kira neugierig.
»Nee, so läuft das nicht. Wenn du es bis jetzt aus­ge­hal­ten hast, kannst du auch noch ein Stünd­chen länger warten, bis du ihn per­sön­lich triffst. Dann kannst du dir selbst ein Bild von ihm machen.«
Ver­schmitzt zwin­kert sie Kira zu und grinst frech. Die Frauen treten aus dem kli­ma­ti­sier­ten Flug­ha­fen­ge­bäu­de nach drau­ßen. Schlag­ar­tig ist die Luft heiß und feucht. Kiras klamme Kla­mot­ten schei­nen ein Bünd­nis mit ihrer Haut ein­zu­ge­hen. Bei jedem Schritt kleben sie noch fester an ihr. Mila merkt sofort, dass sich ihre neue An­ge­stell­te unwohl fühlt.
»Wir haben es nicht weit«, er­klärt sie, »dort drüben steht mein Wagen.« Sie zeigt auf einen dun­kel­blau­en Che­vro­let Tahoe.
»Warum muss ich un­be­dingt zur hei­ßes­ten Zeit ein­rei­sen?«, denkt Kira und steigt er­leich­tert in den Wagen, in dem es noch er­staun­lich kühl ist. Mila hat wohl noch nicht lange auf sie gewartet.
»Warum sollte ich ei­gent­lich nach Or­lan­do flie­gen? Das Hotel be­fin­det sich doch in der Nähe von Fort Myers.« Diese Frage brennt Kira schon lange auf den Lippen. Die Ant­wort, die sie darauf erhält, fällt anders aus, als erwartet.
»Mein Bruder glaubt, du wür­dest sicher gerne einmal Disney World be­su­chen. Sieh es als Will­kom­mens­ge­schenk an. Au­ßer­dem war er mir auch noch etwas schul­dig.« Spitz­bü­bisch legt sie den Kopf zur Seite. »Er baut näm­lich ganz gerne mal Bock­mist. Damit darfst du dich jetzt herumschlagen.«
»Muss ich Angst davor haben?«, fragt Kira unsicher.
Mila lacht und schüt­telt den Kopf. »Nein, so schlimm ist es nicht.« Sie macht eine kurze Pause und ver­dreht dabei die Augen. »Es ist noch viel schlimmer.«
Kira mag sie, ihre fröh­li­che, un­be­küm­mer­te Art ist ir­gend­wie ansteckend.
»Na dann bin ich ja be­ru­higt. Wann fahren wir nach Fort Myers?«
»Morgen Abend. Wir werden eine Nacht hier blei­ben, uns einen Tag lang von Donald und Mickey küssen lassen und abends dann heimfahren.«
Walt Disney World. Was für eine schöne Über­ra­schung. Ashley wird un­ge­heu­er nei­disch sein, wenn sie er­fährt, wohin ihre beste Freun­din morgen gehen darf. Kiras Ge­sicht nimmt einen ver­träum­ten Aus­druck an.
»Du scheinst dich dar­über zu freuen«, stellt Mila zu­frie­den fest. »Ryan tref­fen wir üb­ri­gens gleich im Hotel, er musste noch etwas er­le­di­gen.« Als Kira nichts darauf ant­wor­tet, schüt­telt Mila den Kopf. »Sag mal, redest du immer so viel?«
»Sorry, aber ich bin ein wenig müde. Au­ßer­dem möchte ich aus diesen Sachen raus.« Kira zupft an ihrem T‑Shirt und ver­zieht an­ge­wi­dert das Ge­sicht. »Für eine Dusche würde ich im Moment je­man­den ermorden.«
»In etwa drei­ßig Mi­nu­ten sind wir da, dann kannst du du­schen. Ryan hat uns Zimmer in einem Dis­ney­ho­tel gebucht.«
Zu­frie­den lehnt sich Kira zurück und schließt kurz die Augen. Milas Art ist sehr an­ge­nehm. Kira fühlt sich wohl in ihrer Nähe. Aber das ist bei ihr immer so. Ent­we­der sie kann je­man­den von Anfang an gut leiden, oder nicht. Da­zwi­schen gibt es nichts. Er­schöpft nickt sie ein und be­kommt von der rest­li­chen Fahrt nichts mehr mit. Mila schüt­telt sie sanft aus dem Schlaf, als sie das Hotel er­reicht haben. Wie fern­ge­steu­ert stapft Kira hinter ihr her. Zum Glück ist es bis zu den Zim­mern nicht weit. Da Mila schon am Vor­mit­tag ein­ge­checkt hat, müssen sie sich auch nicht am über­füll­ten Emp­fang die Beine in den Bauch stehen.
Das Hotel sieht lustig aus, über­all stehen über­di­men­sio­na­le Dis­ney­fi­gu­ren herum. Die ein­zel­nen Zimmer kann man nicht wie sonst üblich über einen Flur er­rei­chen, son­dern sie führen alle direkt nach drau­ßen. Über eine Treppe und eine Art Balkon ge­lan­gen die Frauen end­lich zu ihrem Zimmer im ersten Stock.
»Ich hoffe, du hast nichts da­ge­gen, dass wir uns ein Zimmer teilen. Sonst muss ich bei Ryan schla­fen, das wird ihm nicht gefallen.«
Mila macht große Augen, als hätte sie Angst davor, sich mit ihrem Bruder einen Raum zu teilen. Als sie Kiras Lachen hört, atmet sie er­leich­tert aus.
»So­lan­ge ich nicht bei ihm schla­fen muss«, ent­geg­net Kira vor­wit­zig. »Ich steh nicht so auf grap­schen­de, alte, dick­bäu­chi­ge Männer.«
Mila ki­chert und steckt nun schon zum fünf­ten Mal die Schlüs­sel­kar­te ins Schloss. End­lich schal­tet das Licht auf Grün und die Tür lässt sich öffnen.
»Da sind ja zwei Betten im Zimmer. Ich nehme das Erste«, freut sich Kira und lässt sich bäuch­lings auf die Schlaf­stät­te fallen. Am liebs­ten würde sie ein­fach liegen blei­ben und schla­fen und schla­fen und schlafen.
»Miss Tinson! Ich möchte Sie darauf hin­wei­sen, dass Sie drin­gend eine Dusche nötig haben.« Sno­bis­tisch baut sich Mila vor Kira auf und rümpft die Nase.
»Ich weiß, ich weiß. Ich geh ja schon.«
Wieder kommt es Kira vor, als ob sie Mila schon seit Jahren kennt. Sie er­in­nert sie ein wenig an Ashley, viel­leicht liegt es daran. Äch­zend erhebt sich Kira und stemmt ihren Koffer aufs Bett. Der blöde Reiß­ver­schluss klemmt schon wieder. Hek­tisch ver­sucht sie, ihn zu öffnen. Mila sieht ihr eine Weile be­lus­tigt zu, dann gibt sie Kira einen Klaps auf die Finger.
»Immer mit der Ruhe, oder willst du das Ding ka­putt­ma­chen?« Vor­sich­tig ru­ckelt sie kurz, um an­schlie­ßend ohne Schwie­rig­kei­ten den Reiß­ver­schluss auf­zu­zie­hen. »Na bitte, ist doch gar nicht so schwer ge­we­sen.« Ihre Augen fun­keln schel­misch und sie strahlt über das ganze Ge­sicht. »Und jetzt, los! Duschen!«
»Ja, Mami«, rutscht es Kira heraus. Er­schro­cken hält sie sich eine Hand vor den Mund. Zu ihrer Er­leich­te­rung steigt Mila voll darauf ein.
»Mach schnell Kind, bevor du mir vor Mü­dig­keit umfällst!«
Über­trie­ben ernst ruht ihr Blick auf Kira, doch ihre Mund­win­kel zucken ver­rä­te­risch. Kira nickt artig und ver­schwin­det im Bad. Das Wasser ist herr­lich er­fri­schend und weckt ihre müden Le­bens­geis­ter. Ge­nuss­voll schließt sie die Augen und hält ihr Ge­sicht in den Strahl. Eine Zeit lang bleibt sie ein­fach nur stehen und ge­nießt die an­ge­neh­me Kühle auf ihrer Haut. Ihre ver­spann­ten Mus­keln lösen sich all­mäh­lich, wäh­rend der Was­ser­strahl sanft ihren Rücken mas­siert. Nach einer Weile be­ginnt sie, sich den Staub und Schmutz der Reise ab­zu­wa­schen. Die Seife riecht er­staun­lich lecker; fruch­tig, nach Pfir­sich. Da klopft es un­er­war­tet an der Tür.
»Kira, ich lauf schnell vor ins Re­stau­rant und besorg uns etwas zu essen.« Milas Stimme dringt ge­dämpft ins Ba­de­zim­mer. Kira nickt, bis ihr ein­fällt, dass Mila das ja gar nicht sehen kann.
»Das hört sich toll an, ich sterbe vor Hunger!«, ruft sie schnell. Sie dreht die Dusche ab und hört gerade noch, wie die Zim­mer­tür ins Schloss fällt. Zu­frie­den, sauber und mit fri­schen Kla­mot­ten setzt sie sich aufs Bett. Nach kurzer Über­le­gung schal­tet sie den Fern­se­her an und lässt sich, ohne wirk­lich hin­zu­hö­ren, mit den neu­es­ten In­for­ma­tio­nen über Disney World be­rie­seln. Immer wieder fallen ihr die Augen zu, bis sie sogar kurz ein­nickt. Der lange Flug for­dert lang­sam aber sicher seinen Tribut. Um sich wach zu halten, be­schließt sie, an die fri­sche Luft zu gehen. Es hat zwar be­reits zu däm­mern be­gon­nen, doch drau­ßen ist es immer noch sehr warm und schwül. Un­ge­ach­tet dessen atmet Kira tief ein. Sie stützt sich am Ge­län­der ab und ohne etwas Be­stimm­tes zu suchen, wan­dert ihr Blick umher. In der Ho­tel­an­la­ge sind kaum Leute un­ter­wegs, die meis­ten be­su­chen noch die an­gren­zen­den Parks, die bis tief in die Nacht ge­öff­net haben. Kira be­schließt, sich ein wenig die Beine zu ver­tre­ten, und läuft hüp­fend die Treppe hinunter.
Ziel­los wan­dert sie umher, bis ein Strei­fen­hörn­chen ihre Auf­merk­sam­keit erregt. Es hopst mit kurzen Sprün­gen vor ihr über den Weg. Dann stoppt es, stopft sich etwas Pop­corn – das wohl ein paar Kinder ver­lo­ren haben – in die Backen und ver­schwin­det im Ge­büsch. Amü­siert über das kleine Tier geht sie grin­send weiter in Rich­tung Pool, der bis auf eine Person voll­kom­men leer ist. Der Mann schwimmt eine Bahn nach der an­de­ren. Ge­mäch­lich aber kraft­voll schiebt er sich mit jedem Schlag seiner Arme nach vorne. Das dunkle Haar schim­mert im Licht der Pool­be­leuch­tung. Fas­zi­niert be­ob­ach­tet Kira jede seiner Be­we­gun­gen, wie sich die brei­ten Schul­tern im gleich­mä­ßi­gen Rhyth­mus nach­ein­an­der aus dem Wasser heben. Plötz­lich ändert er den Schwimm­stil und reißt beide Arme zu­gleich nach vorne. Wie ein Delfin ver­schwin­det er fast voll­stän­dig im Wasser, um kurz darauf wieder auf­zu­tau­chen. Kira schlen­dert am Pool ent­lang, ohne ihn aus den Augen zu lassen. In atem­be­rau­ben­der Ge­schwin­dig­keit legt er die letz­ten Meter der Bahn zurück, wendet unter Wasser und stößt sich am Be­cken­rand ab, um eine wei­te­re zu ab­sol­vie­ren. Da er dabei von ihr weg schwimmt, hat sie freien Blick auf den brei­ten, mus­ku­lö­sen Rücken, den eine Tä­to­wie­rung ziert. Ein edler, wilder Hengst scheint bei jeder Be­we­gung der Mus­keln über den Rücken zu ga­lop­pie­ren. Er wendet noch einmal und schwimmt zurück. Dann hat er of­fen­bar sein Ta­ges­pen­sum er­füllt und stoppt genau vor Kira am Be­cken­rand, die stehen ge­blie­ben ist und ihn anstarrt.
Mist. Wie pein­lich. Ihr Herz klopft laut. Er schaut ihr direkt in die Augen und ein wis­sen­des Lä­cheln huscht über sein Ge­sicht. Die schwar­zen Haare um­rah­men ein atem­be­rau­bend schö­nes aber mar­kan­tes Ge­sicht, das jede Pla­kat­wand zieren könnte. Von dem An­blick er­schla­gen hält Kira die Luft an. Atem­los be­trach­tet sie die ver­füh­re­ri­schen Lippen, die schma­le, gerade Nase und die stahl­blau­en Augen, die sie sofort in den Bann ziehen.
Wieder zuckt ein leich­tes Grin­sen um seinen Mund, dann nickt er Kira zum Gruß zu. Er­tappt und mit hoch­ro­tem Kopf nickt sie ver­stört zurück und setzt schleu­nigst ihren Weg fort. Wäh­rend sie sich vom Pool ent­fernt, wan­dert ihr Blick immer wieder ver­stoh­len zu ihm zurück. Er stützt sich mit beiden Händen am Be­cken­rand ab. Mit einem kraft­vol­len Ruck stemmt er sich aus dem Wasser. Be­ein­druckt von dem durch­trai­nier­ten Körper fällt Kira das Atmen schwer. Mit einer Hand nimmt er ein Hand­tuch und rub­belt sich durch die Haare. Da be­merkt sie, dass er an einem Finger einen sil­ber­nen Ring trägt. Der wahn­sin­nig gut aus­se­hen­de Typ ist verheiratet.
»Welche Glück­li­che ihn wohl ihr eigen nennen darf?« Bei dem Ge­dan­ken muss Kira in­ner­lich lachen. »Das kann mir doch völlig egal sein, den sehe ich so­wie­so nie wieder.«
Sie dreht sich um und ent­schei­det sich zurück ins Zimmer zu gehen, um dort auf Mila zu warten. Doch als sie noch einmal in seine Rich­tung schielt, steht Mila aus hei­te­rem Himmel bei ihm am Becken und un­ter­hält sich an­ge­regt mit ihm. Kira hat sie nicht kommen sehen. Ihr schwant Böses, als ihr däm­mert, dass Mila den Wahn­sinns­ty­pen kennt. Er schüt­telt gerade den Kopf und legt das Hand­tuch lässig über die Schul­ter. Nahezu gleich­zei­tig drehen sich die beiden zu ihr um. Mila winkt Kira zu sich, sie hat zwei große Tüten im Arm. Als Kira nä­her­kommt, riecht es ver­füh­re­risch. Ihr knurrt sofort der Magen und sie merkt, wie hung­rig sie ist.
»Wie ich fest­stel­len musste, hat sich mein Bruder immer noch nicht bei dir vorgestellt.«
Mila schaut den Mann an ihrer Seite stra­fend an und boxt ihm leicht in die Seite. Er zieht einen Mund­win­kel nach oben, sonst blei­ben seine Ge­sichts­zü­ge un­na­tür­lich und mas­ken­haft. Da­durch wirkt er schreck­lich arrogant.
»Hi, ich bin Ryan Dea­ring.« Artig wie ein klei­ner Junge streckt er Kira die noch immer etwas feuch­te Hand ent­ge­gen. »Ich hoffe, Sie hatten einen an­ge­neh­men Flug?«
»Mister Dea­ring«, zö­gernd drückt sie seine Hand. »Ja, hatte ich, danke.«
Kira ist kom­plett durch den Wind, ihr Herz schlägt ihr bis zum Hals. Sein An­blick macht sie nervös, vor allem, da er nur mit einer Ba­de­ho­se be­klei­det vor ihr steht.
»Das ist also mein neuer Boss. Na super. Genau der Typ ›Mann‹, auf den ich total ab­fah­re. Und mit diesem Adonis soll ich nun ar­bei­ten. Tag für Tag … Na, das kann ja lustig werden«, stellt sie be­sorgt fest.
Ver­le­gen blickt Kira zu Boden, da sie keine Ahnung hat, wohin sie sonst schau­en soll, ohne völlig aus der Bahn zu ge­ra­ten. Doch wie von selbst wan­dern ihre Augen zu ihm zurück.
»Freut mich zu hören. Mila meinte, Sie hätten noch nichts ge­ges­sen«, hört sie ihn sagen.
Kira löst den Blick von seiner glat­ten, un­be­haar­ten Brust und schaut ihm direkt ins Ge­sicht. Böser Fehler. Sie fühlt sich, als wäre sie gerade ge­ohr­feigt worden. In den stahl­blau­en Augen liegt eine tiefe Trau­rig­keit ver­bor­gen, die sie auf schreck­li­che Art und Weise be­rührt. Ein leich­ter Schau­er rie­selt ihren Rücken hinab. Er be­merkt es und zieht für einen kurzen Moment einen Mund­win­kel nach oben, was ihm wieder diesen leicht ar­ro­gan­ten Touch verleiht.
»Ver­dammt, er bringt meine Ge­füh­le ganz schön aus dem Gleich­ge­wicht. Kann er sich nicht end­lich etwas anziehen?«
Mühsam ver­sucht Kira, ihre Fas­sung zu be­wah­ren, doch Mila rettet sie zum Glück aus der Situation.
»Ryan, wenn du auch was essen willst, zieh dir was über! So setzt du dich je­den­falls nicht zu uns.« Sie wirft ihm ein T‑Shirt an den Kopf. Ein Grin­sen kommt über seine Lippen, wäh­rend er sich lang­sam anzieht.
»Komm Kira, wir essen schon einmal«, ent­schei­det Mila und geht zu einem der Tische in der Nähe. »Die hatten leider nur Burger. Alles andere war schon weg. Zum Trin­ken gibt es Cola. Ich hoffe, das ist OK
Prü­fend mus­tert sie Kira, und dabei sieht sie ihrem Bruder ver­dammt ähn­lich. Sie hat die­sel­ben Augen wie er, nur ihre strah­len fröh­lich. Da Kira glaubt, dass Mila das Gefühl hat, ihr etwas Bes­se­res an­bie­ten zu müssen, er­klärt sie: »Burger sind klasse. Ich liebe Burger.« Sie zwin­kert ihrer neuen Freun­din zu, worauf diese er­leich­tert ausatmet.
»Ich mag Burger auch. Bekomm ich einen? Habe mich auch ganz artig an­ge­zo­gen.« Ryan macht einen Schmoll­mund und legt den Kopf schief.
Mila lacht sich krumm und auch Kira ent­schlüpft ein leises Ki­chern. Er sieht aus wie ein fre­cher, klei­ner Junge. Die Daumen hat er in den Bund der Hose ge­steckt. Die halb­lan­gen, zer­zaus­ten Haare fallen ihm sträh­nig in das ma­kel­lo­se Gesicht.
»Hier, du Rie­sen­ba­by, lass es dir schmecken.«
Mila wirft ihm einen Burger zu, den er ge­schickt auf­fängt. Mit einem lauten Seuf­zer setzt er sich und fängt an zu essen, dabei be­trach­tet er Kira nachdenklich.
»Sie redet wirk­lich nicht viel«, be­merkt er zu seiner Schwes­ter ge­wandt, die gleich­gül­tig mit den Schul­tern zuckt.
»Hallo, ich bin auch noch hier«, ärgert sich Kira und rutscht un­ru­hig auf ihrem Stuhl hin und her. Sie kann es nicht leiden, so über­gan­gen zu werden.
»Hast du sie schon ge­fragt, in wel­chen Park sie morgen gerne gehen will?«
»Nee, habe ich nicht, hatte noch keine Zeit dazu«, ant­wor­tet seine Schwester.
»Dann mache ich das jetzt.« Er dreht sich zu Kira um. »Also? Wo wollen Sie morgen hin? Wir haben hier vier ver­schie­de­ne Themen- und zwei Was­ser­parks. Die Ent­schei­dung, in wel­chen wir gehen, liegt bei Ihnen, da wir schon alles kennen.«
Er­war­tungs­voll sehen beide die neue Mit­ar­bei­te­rin an.
»Ich würde gern ins ›Animal King­dom‹ gehen«, schlägt Kira spon­tan vor, dabei starrt sie krampf­haft in Milas Rich­tung. Diese nickt und scheint mit der Wahl äu­ßerst zu­frie­den zu sein.
»Ge­bongt, wir gehen in den Dis­ney­zoo«, sagt sie lie­be­voll und nimmt einen großen Schluck von ihrer Cola. »Fährst du ei­gent­lich gerne Ach­ter­bahn? Ich hasse es.«
»Weiß nicht. Bin noch nie mit einer ge­fah­ren.« Dar­über hat Kira sich noch keine Ge­dan­ken ge­macht, sie war bis jetzt in keinem Freizeitpark.
»Dann musst du es aus­pro­bie­ren und morgen un­be­dingt mit Ryan fahren. Bitte. Dann brau­che ich mich nicht zu quälen.« Mila ver­zieht ihr Ge­sicht, und man kann ihr re­gel­recht an­se­hen, dass Ach­ter­bahn­fah­ren nicht zu ihren Lieb­lings­be­schäf­ti­gun­gen gehört.
»Mila, lass Miss Tinson in Ruhe, sie muss nicht, wenn sie nicht will!«
Ryan be­han­delt Kira wie ein klei­nes Kind, und sie run­zelt ver­är­gert ihre Stirn. Hallo? Was soll das? Sie kann gut für sich selbst spre­chen. »Ich will aber«, platzt sie heraus, was ein wenig bockig klingt.
Er­staunt sieht Ryan seine As­sis­ten­tin an und zieht dabei eine Au­gen­braue nach oben. Nach einer Weile meint er ernst zu seiner Schwes­ter: »Mila, ich glaube, du steckst deine kleine, neue Freun­din jetzt ins Bett. Sie wird quengelig.«
»Ryan! Benimm dich«, schimpft sie ver­le­gen, dann sieht sie Kira ent­schul­di­gend an: »Ich gebe es ja nicht gerne zu, aber du siehst wirk­lich tod­mü­de aus.«
Wie aufs Stich­wort muss Kira kräf­tig gähnen.
»Ja, ich glaube, jetzt schla­fen zu gehen, wäre gar keine schlech­te Idee. Ich bin total K.O.«
Im­mer­hin ist sie auch schon über zwan­zig Stun­den auf den Beinen. Wäh­rend die drei zu den Zim­mern laufen, stu­diert Ryan den Parkplan.
»Der Park macht um neun Uhr auf, wir tref­fen uns morgen am besten um halb acht. Dann haben wir genug Zeit, um zu früh­stü­cken«, be­stimmt er.
»Ge­bongt.« Mila kämpft schon wieder mit der Zimmertür.
»Schla­fen Sie gut, Kira. Ich darf Sie doch Kira nennen, oder?«, fragt er zögerlich.
»Gerne, Mister Dea­ring. Ich wün­sche Ihnen auch eine gute Nacht.«
Schnell schlüpft Kira ver­le­gen an Mila vorbei ins Zimmer. Ryans Schwes­ter folgt ihr be­lus­tigt und schließt die Tür hinter sich.
»Gerne, Mister Dea­ring. Na­tür­lich Mister Dea­ring … «, äfft sie Kira nach. »Du kannst meinen Bruder ruhig Ryan nennen.«
»Das geht doch nicht, im­mer­hin ist er mein Arbeitgeber.«
»Ach was. Wir haben so was noch nie so ernst genommen.«
Mila auf per­sön­li­cher Ebene zu be­geg­nen ist für Kira in Ord­nung, doch bei Ryan hat sie das Gefühl, auf Di­stanz blei­ben zu müssen. Er bringt sie so schon genug durch­ein­an­der, des­halb schüt­telt sie ve­he­ment den Kopf.
»Ich warte lieber, bis er mir selbst den Vor­schlag macht.«
»Wie du meinst. Ich mag nicht dar­über streiten.«
»Ich auch nicht, ich bin zu müde.«
Schon hat Kira sich die Schuhe aus­ge­zo­gen und ver­schwin­det ins Bad. Kurze Zeit später kommt sie um­ge­zo­gen und mit frisch ge­putz­ten Zähnen zurück. Mila liegt auf dem Bett und sieht fern.
»Kannst du schla­fen, wenn die Kiste an ist? Sonst geh ich noch eine Weile zu Ryan rüber.«
»Nor­ma­ler­wei­se nicht, aber ich bin so hun­de­mü­de, dass ich si­cher­lich sofort weg bin.«
Mit müden Augen sieht Kira Mila an und lässt sich gäh­nend aufs Bett fallen.
»Darf ich dir wegen meines Bru­ders noch was sagen?«
»Na klar«, ge­spannt wartet Kira darauf, was Ryans Schwes­ter auf dem Herzen hat.
»Du musst dich bei Ryan darauf ge­fasst machen, dass er ganz schön lau­nisch sein kann. Seit unsere Eltern ge­stor­ben sind, ist es nicht ein­fach, mit ihm klar­zu­kom­men.« Sie macht eine kurze Pause und schaut ihre Zim­mer­ge­nos­sin ernst an. »Wenn mein Brü­der­chen sich einmal etwas in seinen Dick­schä­del ge­setzt hat, dann ist meist alles zu spät.«
»Und warum sagst du mir das?«
»Ich will dich nur warnen. Obwohl er manch­mal ziem­lich aus­flip­pen kann, meint er es meist nicht so.«
»Du meinst, ich soll mich darauf ein­stel­len, dass er extrem im­pul­siv sein kann? Was mache ich dann? Kopf ein­zie­hen und über mich er­ge­hen lassen?«
»Ja, am besten gehst du ihm in sol­chen Mo­men­ten aus dem Weg. Er merkt recht schnell, dass er wieder ein wenig zu weit ge­gan­gen ist.«
Seuf­zend be­trach­tet Kira Ryans Schwes­ter. Obwohl sie es nicht zu­ge­ben will, hat sie die War­nung vor ihrem Ar­beit­ge­ber doch ein wenig eingeschüchtert.
»Er ist oft sehr di­stan­ziert, oder? Du bist da ganz anders.«
»Anders? Anders be­deu­tet ›Gut‹, hoffe ich?« Über­mü­tig streckt ihr Mila die Zunge heraus.
»Genau das meine ich, du bist so offen, so fröh­lich. Du reißt einen ein­fach mit«, grinst Kira.
»Andere nervt das.« Ihre Stimme klingt auf einmal traurig.
»Meinst du Ryan damit?« Kira ist schlag­ar­tig munter und stützt sich in­ter­es­siert auf den Arm.
»Ja, er kann es nicht leiden. Ich wäre so schreck­lich fröh­lich, sagt er immer.«
»Ich kann daran nichts Schreck­li­ches finden. Ist doch gut, wenn du fröh­lich bist. Was stört ihn daran?« Kira schüt­telt ver­ständ­nis­los den Kopf.
»Ryan hatte es in den letz­ten Jahren nicht leicht. Ich glaube, er er­trägt es nicht, weil es ihm selbst immer noch mies geht. Aber er kann es gut ver­ste­cken«, sagt Mila nachdenklich.
»Er hat ver­dammt trau­ri­ge Augen«, rutscht es Kira heraus.
»Das ist dir auf­ge­fal­len? Die an­de­ren sehen immer nur sein hüb­sches Ge­sicht und seinen tollen Körper.« Er­staunt streicht sich Mila ihre Haare aus der Stirn.
»Hm, und ich dachte, dein Bruder sei klein, fett und will mir an die Wäsche«, zieht Kira Mila erneut auf.
»Pass auf, dass er das nicht wirk­lich will, so wie er dich an­ge­se­hen hat«, lacht sie übermütig.
»Warum trägt er diesen Ring? Er ist doch nicht ver­hei­ra­tet, oder?«, über­spielt Kira ihre Antwort.
»Der ge­hör­te un­se­rem Vater. Den trägt er seit dem Tod un­se­rer Eltern an­dau­ernd.« Zwin­kernd fügt sie hinzu: »Nein, er ist nicht ver­hei­ra­tet. Und er hat auch keine Freun­din, falls dich das in­ter­es­sie­ren sollte.«
»Sollte es? Ich möchte meinen Job ei­gent­lich be­hal­ten. Er­zählst du mir, was mit euren Eltern pas­siert ist?«
»Sie sind vor zehn Jahren bei einem Au­to­un­fall ums Leben ge­kom­men. Wie es genau pas­siert ist, weiß ich nicht, das weiß nur Ryan. Er war damals dabei. Aber bitte frag ihn nicht, er hat es selbst mir noch nicht er­zählt und wo­mög­lich wird er es auch nie tun. Jetzt ist aber Schluss mit reden, jetzt wird geschlafen.«
Man kann es Mila an­se­hen, dass es sie schmerzt, über dieses Thema zu spre­chen. Sie macht das Licht aus und stellt den Fern­se­her leise. Kira gähnt noch einmal, dann fallen ihr auch schon die Augen zu.
Ihre Ge­dan­ken sind bei Ryan. Sie stellt es sich schreck­lich vor, sehen zu müssen, wie die ei­ge­nen Eltern ster­ben. Und er ist damals noch so ver­dammt jung ge­we­sen, ein Teen­ager. Ob seine Augen je wieder so strah­len werden, wie die seiner Schwes­ter? Sie wünscht es ihm.


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Kapitel 5

Die Luft in dem klei­nen Ho­tel­zim­mer ist drü­ckend heiß, da Mila die Kli­ma­an­la­ge über Nacht aus­ge­macht hat. Schon eine ganze Weile wälzt sich Kira von links nach rechts. Obwohl es erst kurz nach sechs Uhr mor­gens ist, ist sie hell­wach. Da sie so­wie­so nicht mehr schla­fen kann, steigt sie vor­sich­tig aus dem Bett. Mila be­fin­det sich noch im Reich der Träume und rührt sich nicht. Kira schlüpft schnell in eine kurze Hose, lässt das Trä­ger­shirt, in dem sie ge­schla­fen hat, an und ver­lässt leise das Zimmer.
Auch wenn die Sonne sich erst mit einem röt­li­chen Schim­mer am Ho­ri­zont an­kün­digt, emp­fängt sie schon schwü­le Hitze. Er­staun­li­cher­wei­se macht ihr das heute im Ge­gen­satz zu ges­tern kaum etwas aus. Lä­chelnd be­ob­ach­tet sie zwei um ein paar Pommes zan­ken­de Vögel. Sonst ist es über­all noch ruhig und friedlich.
»Guten Morgen. Haben Sie gut ge­schla­fen?«, ertönt es auf einmal leise hinter ihr.
Da Kira nicht damit ge­rech­net hat, um diese Uhr­zeit auf je­man­den zu tref­fen, zuckt sie zu­sam­men und dreht sich in Rich­tung der Stimme um. Ryan Dea­ring steht in grau ka­rier­ter, kurzer Hose und mit freiem Ober­kör­per vor ihr. Das dunkle Haar ist feucht, ein­zel­ne Trop­fen fallen auf seine Schul­tern und rinnen den Körper hinab bis zum Bund seiner Shorts.
»War er etwa schon wieder schwim­men?«, über­legt Kira und mus­tert ihn mit schräg ge­leg­tem Kopf, die Lippen leicht geöffnet.
»Ent­schul­di­gen Sie, ich wollte Sie nicht erschrecken.«
Er klingt auf­rich­tig, fast ein wenig schüch­tern. Obwohl, seine Kör­per­hal­tung ein­deu­tig etwas an­de­res sagt. Stolz und selbst­be­wusst steht er da und strahlt eine Stärke aus, die Kira das Gefühl gibt, klein und schwach zu sein.
»Guten Morgen, Mister Dea­ring. Sie haben mich nicht er­schreckt, ich habe nur nicht mit Ihnen ge­rech­net«, sagt sie tapfer. »Und ja, ich habe fan­tas­tisch geschlafen.«
»Kira. Würden Sie bitte mit dem Mister Dea­ring auf­hö­ren? Nennen Sie mich doch ein­fach Ryan.«
»Nat … tür­lich … gerne … Ryan«, stot­tert Kira.
Wie zum Teufel soll sie mit diesem Mann zu­sam­men­ar­bei­ten, wenn ihr Herz schon bei seinem bloßen An­blick droht zu zerspringen?
»Meine Schwes­ter schläft be­stimmt noch?« Ab­schät­zend zieht er eine Au­gen­braue nach oben.
»Ja, das tut sie.«
Muss er ei­gent­lich immer so wenig an­ha­ben? Da Kira in Ver­su­chung gerät, ihre Hände auf seine nackte Brust zu legen, dreht sie sich um. Sie um­fasst das Ge­län­der und hofft, dass er nicht be­merkt, wie sehr sie dabei zittert.
»Und warum sind Sie schon wach?«, hört sie ihn fragen.
»Wahr­schein­lich die Zeit­um­stel­lung.« Ihre Ant­wort ist knapp, ver­le­gen schielt sie wieder in seine Rich­tung. »Und warum schla­fen Sie nicht mehr?«
Als Kira diese Frage stellt, ver­dun­keln sich Ryans Augen und er zieht her­ab­las­send den Mund­win­kel nach oben. Sofort wirkt er wieder un­nah­bar und arrogant.
»Ich schla­fe nicht viel und mor­gens gehe ich immer gerne schwim­men«, sagt er schroff, dann wech­selt er sofort das Thema. »Wollen Sie mit mir einen Kaffee trin­ken gehen? Das Re­stau­rant hat ab sechs Uhr auf.«
»Ei­gent­lich wollte ich mir meinen ersten Son­nen­auf­gang hier in Flo­ri­da an­se­hen. Aber Kaffee hört sich auch gut an«, meint Kira achselzuckend.
»Wir können runter zum Pool gehen, uns auf die Liegen setzen und dort warten«, schlägt er vor. »Bis die Sonne auf­geht, dauert es noch circa eine halbe Stunde. Ich hol uns vorher einen Kaffee.«
Erst jetzt fällt Kira ein, dass sie be­stimmt schreck­lich aus­sieht. Ihre Haare sind un­fri­siert und ihr Ober­teil ist ver­knit­tert. Heck­tisch ver­sucht sie, mit den Fin­gern we­nigs­tens die Frisur in Ord­nung zu brin­gen. Ryan be­ob­ach­tet sie mit einem brei­ten Grin­sen im Gesicht.
»Ich muss mir auch noch etwas an­zie­hen. Wie lange brau­chen Sie?«, fragt er amüsiert.
»Ich bin in fünf Mi­nu­ten fertig«, ant­wor­tet sie be­herzt, doch am liebs­ten würde sie sich gerade in Luft auflösen.
»Dann tref­fen wir uns in fünf Mi­nu­ten am Pool.« Ryan nickt zu­frie­den und geht in sein Zimmer.
Kaum ist er ver­schwun­den, atmet Kira tief aus. Ryan bringt schon allein damit ihr Herz zum Rasen, dass er vor ihr steht. Selbst der Klang seiner Stimme lässt Schmet­ter­lin­ge in ihrem Bauch tanzen. Sie ver­steht nicht, was mit ihr los ist. Klar, Ryan sieht toll aus, aber das al­lei­ne ist es nicht, warum sie so durch den Wind ist. Ei­ner­seits möchte sie sich sofort in seine Arme werfen, an­de­rer­seits hat sie das Gefühl, ihn be­schüt­zen zu müssen. Was ziem­lich idio­tisch ist, da er we­sent­lich stär­ker ist als sie. Dass sie so fühlt, muss an den trau­ri­gen Augen und an diesem un­be­schreib­lich ver­letz­ten Aus­druck liegen, den man zwi­schen­durch in ihnen ent­de­cken kann. Auch wenn er sich stark und selbst­be­wusst gibt, manch­mal sagen seine Augen genau das Gegenteil.
Kira schüt­telt den Kopf und öffnet die Zim­mer­tür. Es hat keinen Sinn dar­über nach­zu­den­ken, sie wird heute keine Ant­wort darauf finden. Was sie aber mit Si­cher­heit sagen kann, ist, dass es besser wäre, keine Ge­füh­le für ihn zu ent­wi­ckeln. Sie hat so schon mit genug Pro­ble­men zu kämp­fen, mit ihm würden sich diese min­des­tens ver­dop­peln. Sie sollte drin­gend für Ab­stand sorgen. Nur be­fürch­tet sie, dass es leider schon zu spät ist und sie sich nicht mehr von ihm fern­hal­ten kann. Schlim­mer noch. Das Ge­heim­nis, das in seinem Blick ver­bor­gen liegt, be­sitzt eine so un­vor­stell­ba­re An­zie­hungs­kraft auf sie, dass sie sich gar nicht fern­hal­ten möchte. Sie will er­fah­ren, warum diese blauen Augen manch­mal so furcht­bar trüb­sin­nig sind.
Als sie zurück ins Zimmer kommt, schläft Mila immer noch see­len­ru­hig. Kira schnappt sich ein neues T‑Shirt und schlüpft leise ins Bad. Dort bringt sie ihre Haare in Ord­nung und putzt schnell die Zähne; dann noch ein biss­chen Wim­pern­tu­sche und Lip­gloss und schon ist sie fertig.
Wie ab­ge­macht geht Kira zu den Liegen am Pool, von Ryan ist noch nichts zu sehen. Le­dig­lich Mickey Mouse mit seinem blauen, spit­zen Zau­ber­hut steht da auf einem Felsen. Er hat die Hände in Rich­tung der bald auf­ge­hen­den Sonne hoch er­ho­ben. Man könnte meinen, er wolle sie her­bei­zau­bern. Ein Lä­cheln huscht über Kiras Ge­sicht, es sieht ein­fach zu nied­lich aus. Aus den Au­gen­win­keln sieht sie Ryan kommen, er hat Kaffee und etwas zum Essen geholt.
»Ihr Lä­cheln ge­fällt mir«, sagt er leise mit rauer Stimme.
Au­gen­blick­lich fühlt Kira ein ver­rä­te­ri­sches Pochen zwi­schen den Beinen und ihre Na­cken­haa­re sträu­ben sich. Sie schließt kurz die Augen und ver­sucht das süße Gefühl zu un­ter­drü­cken, dann dreht sie sich zu ihm um. Er hat den Mund­win­kel wieder leicht nach oben ge­zo­gen. Die daraus re­sul­tie­ren­de leich­te Ar­ro­ganz lässt ihn auf ge­wis­se Art und Weise ver­dammt sexy aus­se­hen, da sich sein Lä­cheln dies­mal in seinen Augen wi­der­spie­gelt. Kiras Atem wird schnel­ler und das süße Gefühl in ihrem Un­ter­leib kehrt zurück.
»Bei Mila regen Sie sich über ihr Lä­cheln auf und werfen ihr vor, sie wäre zu fröh­lich«, rutscht es ihr heraus. Er­schro­cken legt sie eine Hand auf den Mund. Na­tür­lich hat sie mit dieser Aus­sa­ge den Zauber, der die beiden kurz umgab, fort­ge­jagt. Zum Glück nimmt er es ihr nicht übel, nur seine Augen werden schlag­ar­tig traurig.
»Hat sie sich dar­über be­klagt?«, fragt er be­drückt, dann zeigt er auf die Liegen. »Wollen wir uns setzten?«
Kira kommt der Auf­for­de­rung nach und nimmt Platz, dabei schüt­telt sie den Kopf. »Nicht wirk­lich, sie sagte nur, sie hätte das Gefühl, es würde Sie nerven.«
»Das tut es nicht.« Da Kira ihn ab­schät­zend mus­tert, redet er weiter. »Ich freue mich für sie, dass sie so un­be­schwert sein kann. Es ist nur manch­mal etwas«, er sucht nach dem rich­ti­gen Wort, »an­stren­gend.«
Ver­le­gen kratzt er sich am Nacken, seine Stimme klingt weh­mü­tig. Für einen kurzen Moment zeigt sich wieder dieser un­er­war­tet ver­letz­li­che Aus­druck in seinem Ge­sicht. Was ihn für Kira nur noch be­geh­rens­wer­ter macht.
»Und Sie? Sie können nicht un­be­schwert sein?«
Ryan ver­steift sich sofort. Seine Ge­sichts­zü­ge ändern sich von einem Au­gen­blick auf den an­de­ren. Seine Miene ist ver­schlos­sen, die Augen tief­schwarz und sturmum­wölkt. In­ner­halb von Se­kun­den wird seine Kör­per­hal­tung ab­wei­send und vor Kira steht ›Mister Unnahbar‹.
Sie run­zelt die Stirn. Ein be­klem­men­des Gefühl, etwas Fal­sches gesagt zu haben, be­schleicht sie. Was ist los mit ihm? Warum hat sie das Gefühl, er würde gerade am liebs­ten vor ihr flüchten?
»Das wollen Sie nicht wissen«, mur­melt er leise, mehr für sich selbst be­stimmt. Dann ver­sucht er ab­zu­len­ken und zeigt auf die mit­ge­brach­ten Sachen. Nichts ist mehr von der Un­si­cher­heit zu merken, die ihn gerade eben noch ge­fan­gen hielt. Sein Blick ist ab­schät­zend und unpersönlich.
»Ich habe uns Kaffee be­sorgt. Und Waf­feln. Ich hoffe, Sie mögen Waffeln.«
»Hm, kann ich erst sagen, wenn ich sie pro­biert habe. Die sehen nicht aus wie die Waf­feln, die ich kenne. Aber sie rie­chen gut.« Kira schnup­pert interessiert.
»Dann pro­bie­ren Sie. Ich hätte Ihnen gerne etwas Bes­se­res ge­bracht, aber die Aus­wahl hier ist leider nicht berauschend.«
Da Kira ihm for­schend ins Ge­sicht schaut, dreht er nervös an seinem Ring. Noch immer wirkt er an­ge­spannt, doch seine Augen haben wieder ihre nor­ma­le Farbe angenommen.
»Das ist schon in Ord­nung. Ich esse mor­gens so­wie­so nicht viel.« Kira nimmt einen Schluck Kaffee und ver­zieht sofort ihr Gesicht.
»Heiß?«, fragt er besorgt.
»Nein, scheuß­lich. Ich hoffe, der Kaffee schmeckt hier nicht immer so.«
Ein Lä­cheln um­spielt seine Lippen, wäh­rend er den Kopf schüt­telt und sich lang­sam ent­spannt. Lässig streckt er die Füße aus und greift nach dem zwei­ten Kaffeebecher.
»Sie soll­ten öfter lä­cheln«, meint Kira und bereut es im glei­chen Moment, denn schlag­ar­tig ist die Fins­ter­nis in seine Augen zu­rück­ge­kehrt. Schnell ver­sucht sie, die Si­tua­ti­on zu retten.
»Mila sagte, ich solle erst am Montag an­fan­gen zu ar­bei­ten. Hat das einen be­stimm­ten Grund?«
Er atmet kräf­tig aus und fängt sich sofort wieder.
»Ja, dann haben Sie noch ein paar Tage, um sich in Ruhe in Ihrer 2‑Zimmerwohnung einzurichten.«
»Oh. Danke. Ich wäre aber auch mit einem ein­fa­chen Zimmer zu­frie­den ge­we­sen«, be­merkt Kira erstaunt.
»Glau­ben Sie mir, es ist besser so, sonst fällt Ihnen an den freien Tagen die Decke auf den Kopf.«
»Wie viele Leute ar­bei­ten im Hotel?«, möchte sie wissen.
»Lassen Sie uns bitte nicht über das Hotel reden. Ich habe heute einen meiner sel­te­nen freien Tage. Da will ich nicht an die Arbeit denken. Er­zäh­len Sie lieber etwas von Ihnen.«
Ab­schät­zend mus­tert er seine As­sis­ten­tin und kaut auf der Un­ter­lip­pe. Kira be­kommt eine Gän­se­haut, so sinn­lich emp­fin­det sie diese Geste. Sofort erhöht sich ihr Herz­schlag und ihr Mund wird trocken.
»Da gibt es nicht viel zu er­zäh­len.« Kira steckt sich ein Stück Waffel in den Mund. Sie schmeckt köst­lich; süß und nach Speck. »Bisher war mein Leben lang­wei­lig, ein­tö­nig, ziem­lich normal. Ich ging in den Kin­der­gar­ten, auf die Schule, dann zur Uni. Nichts Besonders.«
»Und warum haben Sie sich dann ent­schie­den, so weit von zu Hause wegzugehen?«
Er hebt fra­gend eine Au­gen­braue und wartet ge­spannt auf Kiras Ant­wort. Sie zuckt mit den Schul­tern, und obwohl es ihr etwas pein­lich ist, be­schließt sie bei der Wahr­heit zu bleiben.
»Ich wollte etwas von der Welt sehen. Und au­ßer­dem lief es privat gerade nicht gut.«
Sie nimmt noch einen Schluck Kaffee, und es schüt­telt sie wieder. Das Gebräu ist fast nicht zu trin­ken. Da er sie immer noch in­ter­es­siert mus­tert, er­klärt Kira ihre Gründe genauer.
»Ich fand heraus, dass ich von meinem Ex-Freund be­tro­gen wurde. Danach wollte ich ein­fach nur noch so weit weg wie möglich.«
»Sie sind also vor einem Mann zu uns ge­flüch­tet? Und ich dachte, Sie wären an der Stelle in­ter­es­siert.« Seine Augen blit­zen schelmisch.
Er­schro­cken sieht Kira Ryan an, doch sie merkt schnell, dass er sie nur aufzieht.
»Die Stelle? Die war nur ne­ben­säch­lich«, lacht sie. »Nein. Quatsch. Ich habe mich be­wor­ben, bevor der andere Mist pas­sier­te. Dass Sie mir den Job an­ge­bo­ten haben, war nur ein glück­li­cher Zufall.«
Beide lachen un­be­fan­gen. Kira freut sich, so un­ge­zwun­gen mit ihm reden zu können. Wenn er in dieser Stim­mung ist, sieht er viel jünger aus, als er wirk­lich ist.
»Warum gerade unser Hotel?«, will Ryan wissen.
»Mister Dea­ring, Sie haben eben gesagt, Sie wollen nicht über die Arbeit reden.«
Kira blickt ihn stra­fend an und er hebt ent­schul­di­gend beide Hände. »Er­wischt. Dann frage ich anders. Warum Florida?«
»Ich liebe Flo­ri­da. Mein Vater ist in Tampa auf­ge­wach­sen. Ich selbst war bisher nur ein paar Mal zum Urlaub hier.«
»Dann haben Sie Ver­wand­te in Flo­ri­da?«, fragt er erstaunt.
»Nein, leider nicht. Meine Groß­el­tern leben nicht mehr und mein Vater hat keine Ge­schwis­ter.« Kira schüt­telt be­dau­ernd den Kopf. Sie macht eine kleine Pause und be­trach­tet ihn nach­denk­lich. Ryan beißt sich schon wieder auf die Un­ter­lip­pe und macht sie damit fast wahn­sin­nig. Plötz­lich hat sie den Wunsch, diese Lippen zu küssen, ihn zu schme­cken und ihre Finger in seinem schwar­zen Haar zu ver­gra­ben. Um sich ab­zu­len­ken, nimmt sie noch einen Schluck Kaffee.
»Und Sie? Er­zäh­len Sie mir auch etwas von Ihnen?«
»Was wollen Sie wissen?«
»Was immer Sie bereit sind, mir zu er­zäh­len«, flüs­tert Kira, da ihr mitt­ler­wei­le klar ist, dass er nicht ge­willt ist, viel von sich preiszugeben.
Ryan hebt den Kopf. Kira fas­zi­niert ihn. Sie scheint ein na­tür­li­ches Gespür dafür zu haben, wann sie bei ihm eine Grenze er­reicht hat. Als ob sie seine un­sicht­ba­re Bar­rie­re ganz klar sehen kann. Auch ihm klopft das Herz bis zum Hals, wenn er in ihrer Nähe ist. Schon am Pool besaß sie eine un­wahr­schein­li­che Macht über ihn. Als er zum ersten Mal in ihre Augen sah, war er voll­kom­men ver­lo­ren ge­we­sen. Sie hat ihn mit ihrem wachen, tief­sin­ni­gen Blick sofort ein­ge­fan­gen. Nur mit Mühe konnte er die Fas­sa­de auf­recht­erhal­ten, als sie direkt zu seiner Seele vor­drang. Auch jetzt be­schleicht ihn die glei­che Angst wie beim ersten Mal. Er be­fürch­tet, dass diese Augen einen di­rek­ten Zugang zu seinem an­ge­schla­ge­nen In­ne­ren haben. Sie bli­cken ge­ra­de­wegs in den dun­kels­ten Teil seines Herzens.
»Ich rede nicht gerne über mich«, sagt er leise.
»Dann werde ich warten, bis Sie mir frei­wil­lig etwas er­zäh­len wollen.«
Ryan be­trach­tet sie schwei­gend. Kira sieht ihn ver­ständ­nis­voll an, ihre Augen leuch­ten. Er spürt, dass diese Frau etwas an sich hat, das seine mühsam er­rich­te­ten Mauern ein­stür­zen lassen könnte. Des­halb muss er für Ab­stand sorgen, muss sie daran hin­dern, hinter den Schutz­wall zu kommen, um sein Ge­heim­nis zu hüten. Auch wenn sich sein Körper danach ver­zehrt, von ihr Besitz zu er­grei­fen. Sein Un­ter­be­wusst­sein stampft auf wie ein trot­zi­ger Junge. Er will nicht auf Di­stanz blei­ben, er muss sie näher ken­nen­ler­nen. Er will ihre Finger über­all auf sich spüren, sie über­all be­rüh­ren. Sehen, wie sie sich unter seinen Händen windet. Sich vor Lust kaum noch halten kann. Dieses auf­kom­men­de un­be­kann­te Gefühl macht ihm noch mehr Angst. Noch nie hat er den Wunsch ver­spürt, je­man­dem so nahe zu kommen, schon gar nicht, sich von ihm auf diese Weise be­rüh­ren zu lassen. Und obwohl er sich davor fürch­tet, bleibt er, rennt nicht – wie schon so oft – davon.
»Die Sonne sollte jetzt bald aufgehen.«
»Stimmt, ich glaube, Mickey hat es gleich ge­schafft«, schmun­zelt Kira.
Ratlos sieht er sie an. Sie lacht leise und zeigt zu dem klei­nen Zau­ber­lehr­ling. Lang­sam er­scheint der gelbe Ball zwi­schen seinen Händen und es sieht so aus, als ob die Maus die Sonne hoch­hebt. Ryan ver­steht, was Kira meint und sagt la­chend: »Kira, Sie hat das Dis­ney­fie­ber gepackt.«
»Ich muss zu­ge­ben, davon bin schon lange be­fal­len«, grinst sie. »Zu Hause habe ich eine um­fang­rei­che Disney-DVD-Sammlung.«
»Dann habe ich ja zu­fäl­lig rich­tig ge­le­gen mit meiner Überraschung.«
»Und Sie? Mögen Sie die Filme auch?«
»Ja«, Ryan nickt und sein Blick wird weh­mü­tig. Er ver­schränkt die Hände hinter dem Kopf und sieht der auf­ge­hen­den Sonne zu, die sich in seinen feuch­ten Augen spie­gelt. Kira wagt es nicht ihn an­zu­spre­chen, da sie spürt, dass er im Moment Ab­stand braucht. Schwei­gend bli­cken sie ge­mein­sam in den Himmel. Mit einem Mal dreht Ryan sich zu Kira um.
»Ich sollte meiner Schwes­ter auch Früh­stück brin­gen. Ich hole schnell etwas und Sie essen in Ruhe ihre Waffel auf.«
Er steht auf, nimmt den Kaf­fee­be­cher und schlen­dert davon. Nach­dem er ein paar Meter Ab­stand zwi­schen sich und Kira ge­bracht hat, atmet er tief durch und wischt sich ver­stoh­len über die Augen. Er hat gerade an seine Eltern ge­dacht, wie sie abends oft mit ihm und seiner Schwes­ter auf der Couch saßen und sich Filme ansahen.
Disneyfilme.


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Kapitel 6

Animal King­dom, have a wild time!‹
Mit diesen Worten werden die Be­su­cher vor den Toren des The­men­parks be­grüßt. Kira huscht ein Grin­sen über das Ge­sicht. Na, das klingt ja vielversprechend.
»Ich hoffe, die Zeit wird nicht zu wild.« Mila scheint den­sel­ben Ge­dan­ken zu haben.
Es ist erst kurz vor neun Uhr, doch vor dem Ein­gang zum Park ist schon eine Menge los. Die meis­ten Be­su­cher drän­gen sich vor den Toren und warten un­ge­dul­dig darauf, dass diese end­lich ge­öff­net werden.
»Ich geh mal schnell Karten kaufen, wir tref­fen uns vor dem Eingang.«
Ohne auf eine Ant­wort zu warten, macht sich Ryan auch schon auf den Weg zur Kasse und lässt seine Schwes­ter und Kira ein­fach stehen. Die beiden Frauen gehen im Schlen­der­schritt weiter, wobei Mila Kira in­ter­es­siert mus­tert. Ihr scheint etwas auf dem Herzen zu liegen und Kira kann sich auch denken, was. Als sie heute Morgen mit Ryan zu­rück­kam, war Mila wach und stand am Balkon. Sie hat mit Si­cher­heit ge­se­hen, wie Ryan mit ihr zu­sam­men am Pool saß.
»Da war nichts, Mila. Wir haben uns nur un­ter­hal­ten«, ver­sucht Kira zu erklären.
»Ich weiß nicht, was du meinst. Au­ßer­dem würde es mich nichts an­ge­hen, wenn da was wäre«, wie­gelt Mila ab.
»Mila, dein Bruder ist mein Boss. Es würde nur Pro­ble­me verursachen.«
Ja, schön gesagt. Aber ers­tens: Kira zieht Pro­ble­me an wie das Licht die Motten. Und zwei­tens: Wen belügt sie hier ei­gent­lich? Sobald er in ihrer Nähe ist, muss sie die ganze Zeit kämp­fen, um ihm nicht um den Hals zu fallen. Sie kann kaum die Finger bei sich lassen.
»Kira, ich habe nichts gegen dich, im Ge­gen­teil, ich mag dich rich­tig gern«, Mila macht eine Pause. »Ich bitte dich nur: Spiel nicht mit ihm. Das hat er nicht ver­dient und er könnte es nicht verkraften.«
»Ich spiele mit nie­man­dem. Ich weiß aus ei­ge­ner Er­fah­rung gut genug, wie schei­ße das ist.«
Tod­ernst ruht Kiras Blick auf Ryans Schwes­ter. Ihr ist an­zu­se­hen, dass sie sich Sorgen um ihren Bruder macht, doch die sind un­be­grün­det. Mit seinen Ge­füh­len zu spie­len wäre das Letzte, das Kira ein­fal­len würde.
»Ich hoffe, dass du das ernst meinst. Du hast keine Ahnung … Mist. Er kommt.« Mila sieht Kira bit­tend an, ihrem Bruder ge­gen­über nichts zu erwähnen.
»So Mädels, es kann los­ge­hen!«, ruft er gut ge­launt. »Ist bei euch alles in Ordnung?«
Die beiden nicken fast zeit­gleich. Ryan gibt ihnen die Karten und wun­dert sich ein wenig, dass die zwei so abrupt das Ge­spräch be­en­det haben. Er geht nach­denk­lich an dem Kas­sen­häus­chen, über dem ein großer, grüner Ele­fan­ten­kopf thront, vorbei zum Ein­gang, der mitt­ler­wei­le ge­öff­net wurde. Seine Schwes­ter und Kira folgen ihm.
»Wollen wir gleich die Safari machen? Dann müss­ten wir uns links halten.«
Mila ist auf­ge­dreht wie ein klei­nes Kind, das zum ersten Mal in den Zoo geht. Sie ver­sucht, das Ge­spräch mit Kira zu über­spie­len. Diese be­schließt eben­falls, sich nichts an­mer­ken zu lassen und nickt be­geis­tert. Safari hört sich toll an.
Der Park ist in ein­zel­ne Be­rei­che un­ter­teilt, und die so­ge­nann­ten ›Ki­li­man­ja­ro Sa­fa­ris‹ be­fin­den sich na­tür­lich in Afrika. Um dort­hin zu ge­lan­gen, müssen die drei fast den kom­plet­ten Park durch­que­ren. Immer wieder gibt es Mög­lich­kei­ten, Tiere zu be­ob­ach­ten, nur Mila lässt den an­de­ren keine Zeit dazu.
»Rast sie jetzt den ganzen Tag so durch den Park? Ich kipp gleich um.«
Kira ist völlig außer Atem und ihr ist leicht schwin­de­lig. Die Hitze und die hohe Luft­feuch­tig­keit machen ihr nun doch zu schaffen.
»Mila. Lauf lang­sa­mer! Kira kommt ja gar nicht mehr mit.«
Ryan ist stehen ge­blie­ben und sieht seine As­sis­ten­tin be­sorgt an.
»Ich glaube, ich brau­che noch ein paar Tage, um mich an das Klima zu ge­wöh­nen«, ent­schul­digt sie sich.
»Tut mir leid, Kira, daran habe ich gar nicht ge­dacht«, sagt Mila ge­knickt. »Ich habe eine Idee, ich laufe schon mal vor und schaue, wie viel dort los ist.«
Mila hat noch nicht mal aus­ge­re­det, da ist sie schon in der Men­schen­men­ge verschwunden.
»Geht›s wieder? Oder sollen wir uns setzen?«
Ryan mus­tert Kira in­ten­siv und sofort klopft ihr Herz bis zum Hals. Sie ist fas­sungs­los, wie ein­fach er sie erregt. Welche Macht er über sie be­sitzt. Ein Blick von ihm und sie ist wil­len­los. Kira schluckt, da ihr Mund mit einem Mal tro­cken ist.
»Soll ich Ihnen etwas zu trin­ken holen?«
Kira nickt dank­bar. Of­fen­kun­dig kann er Ge­dan­ken lesen oder ein­fach nur gut be­ob­ach­ten. Er führt sie zu einer Bank in der Nähe.
»Warten Sie hier, ich bin gleich zurück.«
Froh über die kurze Pause setzt sich Kira er­leich­tert und be­ob­ach­tet, wie Ryan in einem Re­stau­rant ver­schwin­det. Sie findet es rüh­rend, dass er sich Sorgen um sie macht. Wenig später ist er auch schon mit einer Coke XL in der Hand wieder da.
»Ich wusste nicht, wie viel Durst Sie haben.«
Er reicht Kira den Becher. Nach­dem sie ge­trun­ken hat, fühlt sie sich gleich viel besser.
»Und Sie? Wollen Sie auch etwas?«, sie hält ihm die Coke hin. Er schüt­telt ab­leh­nend den Kopf.
»Sind Sie sicher? Ich schaf­fe den Becher so­wie­so nicht alleine.«
Zö­gernd nimmt er die Cola, die ihm Kira ent­ge­gen streckt.
»Ich bin nicht giftig«, sagt sie lachend.
Er grinst zurück, dann nimmt er einen großen Schluck.
»Danke. Ich habe gar nicht ge­merkt, wie durs­tig ich bin. Können wir weiter?« Er streckt ihr seine Hand entgegen.
Kira lässt sich von ihm hoch­zie­hen, und ge­mein­sam setzen sie ge­mäch­lich ihren Weg fort. Ryan ist auf­merk­sam, höf­lich aber sehr di­stan­ziert. Auf dem Weg macht er Kira immer wieder auf ver­schie­de­ne Tiere auf­merk­sam, die sie selbst nie im Leben ent­deckt hätte. Doch sie ist an ihm weit­aus mehr in­ter­es­siert als an den Tieren, die er ihr zeigt. Nach einer Weile stehen sie end­lich vor einer großen, dun­kel­brau­nen Holz­plat­te mit der Auf­schrift Afrika. Er­leich­tert atmet Kira aus, jetzt kann es nicht mehr weit sein.
»Geht es Ihnen wirk­lich gut? Nicht, dass Sie mir hier zu­sam­men­klap­pen«, sorgt sich Ryan.
»Mit mir ist alles OK. Nur werde ich Mila sicher nicht mehr hin­ter­her rennen«, er­klärt Kira la­chend, um ihn zu beruhigen.
Er hält mit einer Hand sanft ihren Un­ter­arm fest. Obwohl er sie kaum be­rührt, brennt Kiras Haut wie Feuer. Ernst schaut er ihr in die Augen.
»Ich möchte wissen, wenn es nicht mehr geht. OK
Kira schluckt. Sein Blick fi­xiert sie noch immer. Ihr Atem wird schnel­ler, Zen­ti­me­ter für Zen­ti­me­ter kommt er näher. Wenn er sie jetzt küsst, hat sie nichts da­ge­gen zu setzen.
»Da seid ihr ja end­lich!« Laut rufend kommt ihnen Mila entgegen.
Er­leich­te­rung macht sich in Kira breit, die jedoch schon einen Moment später von großer Ent­täu­schung ab­ge­löst wird. Ryan lässt Kiras Arm sofort los, macht einen Schritt zurück und zeigt auf die Holzplatte.
»Wir haben uns gerade die Schnit­ze­rei­en hier angesehen.«
»Lasst doch das blöde Holz­ding. Beeilt euch lieber. Bei der Safari ist noch gar nichts los«, for­dert Mila sie un­ge­dul­dig auf. »Wo wart ihr so lange? Hat Ryan dir die Sta­chel­schwei­ne ge­zeigt? Die find ich so niedlich.«
Sie ist ganz und gar in ihrem Ele­ment. Wenn Mila auf­ge­regt ist, plap­pert sie noch mehr als Ashley, was ei­gent­lich fast un­mög­lich ist.
»Schwes­ter­chen, hol mal tief Luft, ich kann mich nicht um zwei ohn­mäch­ti­ge Damen küm­mern«, er­mahnt Ryan, dann zeigt er auf einen über­dach­ten Weg. »Da vorne ist der Ein­gang, Kira.«
Schon bald sitzen sie in einem der Sa­fa­ri­bus­se. Im Schritt­tem­po schau­kelt das hell­brau­ne Ge­fährt mit den dunk­len Strei­fen den Weg ent­lang. Sie konn­ten einen Platz in der ersten Reihe er­gat­tern. Ryan hat in der Mitte platz­ge­nom­men und die Arme lässig hinter seinen Be­glei­te­rin­nen auf die Rü­cken­leh­ne gelegt. Ge­mäch­lich tu­ckern sie an Pe­li­ka­nen, Kro­ko­di­len und bi­zar­ren Ge­bil­den vorbei, die, wie sich her­aus­stellt, nach­ge­bau­te Ter­mi­ten­hü­gel dar­stel­len. Die ersten Step­pen­tie­re, die sie zu Ge­sicht be­kom­men, sind rot­brau­ne Rinder mit sehr langen, schnee­wei­ßen Hörnern.
»Na toll. Kühe«, sagt Mila trocken.
»Die gibt es bei uns in Ös­ter­reich auch. Dafür hätte ich nicht hier­her kommen müssen.« Ge­lang­weilt ver­zieht Kira ihr Ge­sicht. Wie auf Kom­man­do prus­ten sie und Mila gleich­zei­tig los.
»Ich muss aber zu­ge­ben, unsere haben nicht so lange Dinger auf dem Kopf.«
»Kira. Hör auf. Ich be­kom­me Bauch­schmer­zen«, gluckst Mila.
»Meine Damen, bitte etwas mehr Geduld, die rich­tig in­ter­es­san­ten Tiere kommen ja noch.«
Eine Spur von Tadel schwingt in seiner Stimme mit. Ab­schät­zend beäugt Kira ihren Chef und über­legt, ob er von dem al­ber­nen Ge­quat­sche ge­nervt ist. Doch Ryan sieht ganz ent­spannt aus und sein Blick wan­dert auf­merk­sam über die Steppenlandschaft.
»Kira, da drüben, ein Zebra!«
Er beugt sich zu ihr hin­über und zeigt mit dem Finger ins hohe Gras. Dabei rutscht seine Hand von der Lehne auf ihre Schul­ter. Zufall? Ab­sicht? Kira weiß es nicht. Die Stelle, an der er sie be­rührt, pri­ckelt an­ge­nehm, mit dem Daumen streicht er lang­sam an ihrem Nacken ent­lang. Er be­merkt erst, was er da macht, als Kira eine Gän­se­haut be­kommt, und zieht sofort die Hand weg, als hätte er sich ver­brannt. Seine Augen sind weit auf­ge­ris­sen. Die ganze rest­li­che Fahrt über achtet er pein­lich genau darauf, Kira nicht mehr zu be­rüh­ren. Zu jeder Zeit sorgt er dafür, dass genug Ab­stand zwi­schen ihnen ist. Am liebs­ten würde er mit Mila den Platz tau­schen. Die hat von der ganzen Sache zum Glück nichts mit­be­kom­men und er­klärt fröh­lich: »Jetzt müsste der Teich mit den Fla­min­gos kommen.«
»Mensch Mila, du sollst doch nicht alles ver­ra­ten.« Ryan sieht Kira ent­schul­di­gend an.
»Ist doch nicht so schlimm, jetzt weiß ich we­nigs­tens, nach wel­cher Farbe ich suchen muss.«
Der Wagen fährt um ein Ge­büsch herum, sodass wei­te­re Tiere in Sicht kommen. Nashörner.
»Ko­misch. Sind Fla­min­gos nicht rosa? Und klei­ner?« Frech fun­kelt Kira Mila an, die eis­kalt kon­tert: »Die sind be­stimmt falsch ge­füt­tert worden, dann kann so etwas schon mal passieren.«
Die beiden Frauen kugeln sich vor Lachen.
»Wenn ich ge­wusst hätte, wie albern ihr heute drauf seid, hättet ihr al­lei­ne fahren können.«
Ryan schüt­telt den Kopf, doch er grinst dabei. Kira dreht sich ein wenig zur Seite, um ihn besser be­ob­ach­ten zu können. Als er es be­merkt, fin­gert er nervös an seinem Ring und kaut auf der Un­ter­lip­pe. Ein Lä­cheln huscht über Kiras Ge­sicht, als sie er­kennt, dass sie die glei­che Wir­kung auf ihn hat wie er auf sie.
»Da oben liegt eine Löwin.«
Mila reißt Kira aus ihren Ge­dan­ken. Der Bus fährt dicht an einem Felsen vorbei, die Löwin liegt über ihnen und sieht her­ab­las­send auf sie her­un­ter. Ein Stück­chen unter ihr liegt der König der Tiere. Ge­lang­weilt, mit halb zu­ge­knif­fe­nen Augen folgt sein Blick dem Wagen. Bitte, bitte nicht sprin­gen, denkt Kira, obwohl sie weiß, dass auch sie in einem Gehege sitzen. Un­be­wusst rückt sie näher an Ryan heran. Er holt tief Luft und lässt diese zi­schend wieder durch die Zähne ent­wei­chen. Hastig rutscht sie an ihren Platz zurück.
Zum Glück fährt das Auto wenig später zurück ins Camp. Mila hüpft hinaus, und Ryan reicht Kira die Hand, nach­dem er den Wagen ver­las­sen hat. Sie lässt sich von ihm aus dem Bus helfen, und er hält sie dabei einen kurzen Moment länger fest als nötig. Dann kneift er die Augen zu­sam­men und holt tief Luft. Er schüt­telt kaum merk­lich den Kopf, lässt ihre Hand los und geht zu seiner Schwes­ter. Kira bleibt nichts an­de­res übrig, als hin­ter­her zu rennen, da es Mila schon zur nächs­ten At­trak­ti­on zieht, die ›Pan­gani Forest‹ heißt.
»Ryan, ich warte bei den Fluss­pfer­den auf euch.«
Mila ist nicht mehr zu halten. Kira schüt­telt den Kopf. Ashley ist ja schon an­stren­gend, aber Mila schlägt alles.
»Was ist denn mit der los?«
»Mila ist Bio­lo­gin, sie hat sich schon immer für Fluss­pfer­de und See­kü­he in­ter­es­siert. Des­halb ist sie auch so heiß auf den neuen Job, dort dreht sich alles um Mana­tis und ihren Le­bens­raum«, ver­tei­digt er seine Schwester.
Nach­denk­lich mus­tert er Kira und findet, dass sie ruhig etwas mehr zu sich nehmen sollte, so dünn, wie sie ist. »Sollen wir etwas essen gehen? Sie haben heute Morgen so wenig ge­früh­stückt«, schlägt er des­halb vor.
»Nein, wir können ruhig wei­ter­ge­hen. Sonst gibt Mila noch eine Ver­miss­ten­an­zei­ge auf.«
Schwei­gend bum­meln sie ne­ben­ein­an­der von Gehege zu Gehege, die ganze Zeit ist er auf­merk­sam und höf­lich, bleibt aber auf Ab­stand. Kira be­ob­ach­tet ihn ver­stoh­len. Er be­nimmt sich, als würde er mit einem Tiger Gassi gehen. Die beiden kommen schließ­lich beim Fluss­pferd­haus an und müssen Mila nicht lange suchen. Sie steht vor einer großen Glas­schei­be und drückt sich die Nase platt. Auf der an­de­ren Seite liegt eines der grauen Ko­los­se re­gungs­los im Wasser. Hin und wieder zuckt es mit einem Ohr.
»Und hat es sich schon bewegt?«, fragt Ryan seine Schwes­ter spöttisch.
»Wenn sie dich nicht in­ter­es­sie­ren, dann halt we­nigs­tens die Klappe.«
Sie dreht sich ver­är­gert um und faucht ihren Bruder mit vor Wut fun­keln­den Augen an. Was die Fluss­pfer­de be­trifft, ver­steht sie keinen Spaß. Er hebt ab­weh­rend die Hände.
»Ich habe doch nur Spaß ge­macht. Werde doch nicht gleich sauer.«
Mila scheint be­sänf­tigt, denn sie dreht sich wieder um und starrt aufs Neue auf das graue Un­ge­tüm. Kira muss Ryan leider zu­stim­men, diese Tiere sind wirk­lich nicht aufregend.
»Wie lange willst du ihm noch beim Schla­fen zuschauen?«
Ryan kann es nicht lassen, ein wei­te­res Mal ärgert er seine Schwes­ter und erneut wirft sie ihm einen bit­ter­bö­sen Blick zu.
»Weißt du was, geht doch ohne mich weiter. Ich bleib hier. Ihr könnt mir ja über Handy Be­scheid geben, wenn ihr genug habt und heim­fah­ren wollt.«
Sie dreht sich be­lei­digt um, und Ryan zuckt ratlos mit den Schul­tern, eisig mus­tert er seine Schwester.
»Wenn du meinst. Wollen wir, Kira?«
Er macht auf dem Absatz kehrt und ver­lässt das Ge­bäu­de, ohne sich darum zu küm­mern, ob Kira ihm folgt oder nicht.
»Bis später, Mila!«, ruft sie, doch von Mila kommt keine Re­ak­ti­on. Kira rennt Ryan hin­ter­her, um ihn ein­zu­ho­len, doch all zu weit braucht sie gar nicht zu laufen. ›Mister Un­nah­bar‹ steht drau­ßen vor der Tür und starrt Löcher in die Luft. Vor­sich­tig ver­sucht sie her­aus­zu­fin­den, in wel­cher Stim­mung er ge­gen­wär­tig ist. Sein Ge­sichts­aus­druck ist fins­ter und in den Augen stürmt es wieder. Er scheint einen in­ne­ren Kampf mit sich aus­zu­fech­ten. Kira wagt es kaum, ihn anzusprechen.
»Ryan? Ist alles OK?«, fragt sie zögerlich.
Be­hut­sam be­rührt sie seinen Un­ter­arm. Ryan zieht ihn sofort weg. Immer noch schweigt er und hat den Blick auf das Erd­männ­chen­ge­he­ge ge­rich­tet. Kira stellt sich neben ihn und wartet, bis er end­lich von selbst zu reden beginnt.
»Ich könnte mich ohr­fei­gen, ich weiß doch, wie heilig ihr die Fluss­pfer­de sind.«
»Hey, ist doch halb so wild. Sie ist be­stimmt nicht mehr sauer, und wenn doch, be­ru­higt sie sich sicher bald wieder.«
Er atmet tief ein, schüt­telt den Kopf, dann dreht er sich zu Kira um. Ihr nimmt es fast den Atem, als sie sieht, wie ge­knickt er ist und wie leid ihm die ganze Sache tut. Wieder über­kommt Kira das Gefühl, ihn be­schüt­zen zu müssen.
»Doch. Ist sie be­stimmt. Aber kommen Sie. Ich will Ihnen nicht auch noch den Tag ver­der­ben. Gehen wir weiter, um die Ecke sind die Gorillas.«
Obwohl er da­ge­gen an­kämpft, wan­dern seine Ge­dan­ken un­auf­hör­lich zu seiner Schwes­ter zurück. Tief in Ge­dan­ken ver­sun­ken geht sein Blick ins Leere. Kira be­zwei­felt, dass er über­haupt mit­be­kommt, was sich im Gehege tut. Sie muss ihn auf ir­gend­ei­ne Weise aus dieser Grü­be­lei her­aus­ho­len. Da fällt ihr etwas ein. Ver­schmitzt fängt sie an zu grin­sen. Sie hofft nur, dass er es nicht in den fal­schen Hals be­kommt und sauer wird. Sie schielt zu Ryan und sagt mit über­trie­ben erns­ter Stimme: »Haben Sie ge­se­hen? Der eine raucht Pfeife.«
Er nickt kurz. Kira muss grin­sen. Dass er ihr nicht wirk­lich zu­hö­ren würde, war ihr von Anfang an klar. Be­lus­tigt macht sie weiter.
»Ich finde es nicht gut, dass sie ihm das erlauben.«
Jetzt wird er stut­zig und run­zelt die Stirn, dann fragt er er­staunt: »Was erlauben?«
Kira findet die Sache ziem­lich ko­misch und setzt noch einen drauf. »Dass er raucht.«
»Wer raucht?« Auf seiner Stirn steht ein großes Fra­ge­zei­chen. Ver­wirrt zieht er die Au­gen­brau­en nach oben.
»Na, der Gorilla.«
Kira kann sich ein Ki­chern nicht ver­knei­fen. Da ka­piert Ryan end­lich, dass sie ihn verarscht.
»Wenn ich Sie erwische …«
Lang­sam zieht er den Mund­win­kel nach oben und macht einen Schritt auf Kira zu, die krei­schend da­von­läuft. Nach ein paar Metern, an einem fel­si­gen Durch­gang, hat Ryan das zier­li­che Mäd­chen auch schon ein­ge­holt. Er er­wischt sie am Arm und hält sie fest. Dann drückt er sie gegen einen der Steine, legt die Hände links und rechts neben ihren Kopf und sieht ihr tief in die Augen. Deut­lich spürt sie seine kör­per­li­che Kraft.
»Hexe«, knurrt er grin­send etwas außer Atem.
»Wenn Sie mir etwas tun, ver­wand­le ich Sie in einen Frosch«, droht Kira vorwitzig.
Die Luft zwi­schen den beiden knis­tert ge­wal­tig. Kira atmet an­ge­strengt, was nicht nur an dem kurzen Sprint liegt. Auch Ryan atmet schwer. Jedes Mal, wenn er Luft holt, drückt sein Brust­korb gegen Kira, deren Herz wie ver­rückt rast.
»Also? Was wollen Sie nun machen? Jetzt, da Sie mich ge­fan­gen haben.« Kiras Stimme ist kaum zu hören.
Ryan beugt sich zu ihr her­un­ter und drückt seine Lippen auf ihre. Sein Kuss ist hart und un­barm­her­zig, ge­tränkt mit einer Lei­den­schaft, die Kira den Atem nimmt. Seine Zunge drängt for­dernd und ag­gres­siv ihre Lippen aus­ein­an­der und er­obert jeden Winkel ihres Mundes. Immer wieder stößt er in sie hinein und zieht sich gleich darauf zurück. Kira hebt die Arme, um­schlingt seinen Hals und er­wi­dert den Kuss.
Ohne jede Vor­war­nung zieht er sich zurück, beißt die Zähne auf­ein­an­der und schüt­telt heftig den Kopf. Dann stößt er Kira von sich. Sie tau­melt zurück und prallt gegen den Felsen, an dem ihr vor lauter Schmerz die Beine weg­sa­cken. Sein fins­te­rer Blick trifft sie mit voller Wucht, seine Stimme grollt vor Zorn.
»Ich möchte, dass Sie die Finger von mir lassen. Lassen Sie mich in Ruhe, Kira. Sie kennen mich über­haupt nicht. Sie haben über­haupt keine Ahnung, auf wen Sie sich da ein­las­sen. Wir werden mit­ein­an­der ar­bei­ten, mehr aber auch nicht.«
Er dreht sich um und lässt Kira un­ge­rührt im Dreck sitzen. See­len­ru­hig nimmt er sein Handy und wählt Milas Nummer.


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