Leseprobe – Zeit der Erinnerung


Exclusive Leseprobe aus Zeit der Erinnerung

Band 2 der Blackstorm – Reihe


Kapitel 5

Ian wirft das Fahr­rad in die Wiese und lässt sich frus­triert auf den Boden fallen. Er hat über­haupt keine Lust nach Hause zu gehen. Das mit dem Nach­sit­zen war eine reine Lüge, eine Lüge zum Selbst­schutz. Sein Stief­va­ter kommt morgen aus Asien zurück und seine Mutter er­war­tet von ihm, dass er sich im trau­ten Heim bli­cken lässt, um ihn will­kom­men zu heißen. Im Ge­gen­satz zu seiner Schwes­ter, die sich tie­risch auf ihren ›Papi‹ freut, kann ihm der Stief­va­ter ge­stoh­len bleiben.
Jordan hat von Anfang an durch­bli­cken lassen, dass er Ian nur duldet, weil er seine Mutter nicht ohne ihn be­kom­men würde. Jeder kleins­te Fehler sei­ner­seits wurde in den letz­ten fünf Jahren re­gis­triert und be­straft. Des­halb war Ian am Ende auch kaum noch zu Hause. Nach der Schule zog er mit Freun­den um die Häuser und kam immer erst spät abends zurück oder blieb manch­mal ganz weg. Das Ver­hält­nis wurde da­durch na­tür­lich nicht besser, al­ler­dings legte er auch keinen Wert darauf.
Ei­gent­lich kommt er nur noch wegen seiner klei­nen Schwes­ter nach Hause. Mal­lo­ry ist die Ein­zi­ge, die ihn trotz seiner Fehler liebt. Sie be­wun­dert ihren großen Bruder und das, obwohl er sie in der Ver­gan­gen­heit des Öf­te­ren hängen ließ. So wie an dem Tag, an dem er vergaß, sie vom Mu­sik­un­ter­richt ab­zu­ho­len. Mal­lo­ry stand fast eine Stunde war­tend im Regen, bis die Leh­re­rin sie völlig durch­nässt fand und empört bei ihnen zu Hause anrief. Als seine Mutter es Jordan brüh­warm er­zähl­te, ras­te­te der Stief­va­ter zum ersten Mal voll­kom­men aus. Er nahm einen Gürtel und schlug Ian damit grün und blau. Ihm blieb nur noch die Mög­lich­keit, so schnell wie mög­lich aus dem Haus zu verschwinden.
Er war so sauer auf Jordan, aber auch auf sich selbst, dass er mit ei­ni­gen Freun­den ran­da­lie­rend durch die Stra­ßen zog. Sie warfen Müll­ton­nen und Blu­men­kü­bel um, bra­chen an Autos Spie­gel ab und zer­kratz­ten mit Schlüs­seln den Lack. Als Ian Jor­dans Kombi vor einer Kneipe ent­deck­te, sah er plötz­lich voll­kom­men Rot. Mit einem Zie­gel­stein warf er die Wind­schutz­schei­be des Wagens ein. In dem Moment, als die Alarm­an­la­ge los­ging, stürz­te der Stief­va­ter auch schon auf die Straße. Er packte Ian an der Jacke und es gelang ihm nur, sich zu be­frei­en, weil er schnell genug aus den Ärmeln schlüp­fen konnte. Jordan er­kann­te den Ver­ur­sa­cher des Scha­dens na­tür­lich sofort und zeigte ihn bei der Po­li­zei an. Für ihn war das wohl die beste Mög­lich­keit, den un­ge­lieb­ten Stief­sohn los­zu­wer­den. Zu seinem Pech ging dieser Plan nicht auf. Da es Ians erstes Ver­ge­hen war, kam er mit einer Be­wäh­rungs­stra­fe davon. Kurz darauf ging Jordan für ein halbes Jahr be­ruf­lich ins Aus­land. Seit­dem hat er mit seinem Stief­sohn nicht ein Wort mehr gesprochen.
Am liebs­ten würde Ian jetzt ver­schwin­den. Nur wo soll er hin? Sein Groß­va­ter ist erst vor Kurzem in ein Al­ters­heim ge­zo­gen und sein rich­ti­ger Vater lebt nicht mehr. Au­ßer­dem kann er seine kleine Schwes­ter nicht auf­ge­ben. Auch wenn er Jordan hasst, Mal­lo­ry liebt er heiß und innig. Sie ist sein Ein und Alles. Für sie würde er Jordan wei­ter­hin er­tra­gen, wie er ihn schon die letz­ten Jahre er­tra­gen hat.
Seuf­zend wischt sich Ian mit dem Ärmel über das Ge­sicht und schnappt sich das Fahr­rad. Ge­knickt macht er sich auf den Weg nach Hause. Ir­gend­wie läuft im Moment alles nicht so, wie er es gerne hätte. Auch im Stall haben die an­de­ren ihn auf dem Radar. Ei­gent­lich hatte er ge­hofft, dass die Jungs und er Freun­de werden würden. Doch Brad und seine Kum­pels hassen ihn. Ihn, den kri­mi­nel­len Grün­schna­bel, der ihrer Mei­nung nach be­vor­zugt wird.
Doch dar­über muss er sich bald keine Ge­dan­ken mehr machen. Jordan wird ihm sofort ver­bie­ten, wei­ter­hin in den Stall zu gehen. Davon ist Ian fel­sen­fest über­zeugt. Das Ver­hält­nis zur Mutter wird auch wieder schlech­ter werden. Sie wird sich auf die Seite des Stief­va­ters stel­len und er wird an allem schuld sein.
Ian lehnt das Rad an die Haus­wand und steigt zö­ger­lich die letz­ten Stufen zur Haus­tür hinauf. Er hat sie noch nicht ganz er­reicht, da fliegt sie auch schon auf und Mal­lo­ry kommt ihm auf­ge­regt mit einem selbst ge­mal­ten Bild entgegen.
»Freust du dich auch so, dass Papi end­lich heim­kommt?«, be­grüßt sie ihn über­schwäng­lich. »Schau mal, das habe ich für ihn gemacht.«
Stolz streckt sie ihm ihr Werk ent­ge­gen, an dem sie den ganzen Nach­mit­tag ge­ar­bei­tet hat. Drei fröh­lich win­ken­de Men­schen warten vor einem Haus auf einen Mann, der gerade aus einem Taxi steigt. Mal­lo­ry hat dar­über mit bunten Farben ›Will­kom­men zu Hause‹ ge­schrie­ben und über­all auf dem Blatt kleine Herz­chen-Sti­cker verteilt.
Ian zuckt mit den Schul­tern und drängt sich wort­los an seiner Schwes­ter vorbei, um so schnell wie mög­lich in seinem Zimmer zu ver­schwin­den. Doch seine Mutter hält ihn stock­sauer zurück.
»Du könn­test deiner Schwes­ter we­nigs­tens eine Ant­wort geben. Wo warst du über­haupt so lange? Und wie siehst du schon wieder aus? Wenn dein Vater zu­rück­kommt, ist Schluss mit dem Her­um­trei­ben. Du weißt genau, dass er das nicht leiden kann.«
Genau das hat Ian ge­meint. Jordan hat noch nicht einmal einen Fuß über die Schwel­le ge­setzt und schon gehen die Strei­te­rei­en wieder los. »Der Penner ist nicht mein Vater«, keift er die Mutter wütend an. »Viel­leicht sollte ich ein­fach ver­schwin­den und gar nicht mehr nach Hause kommen. Ich bin euch doch so­wie­so an­dau­ernd im Weg.«
»IAN
»Leck mich doch …« Ian rauscht die Treppe hoch in sein Zimmer. Die Mutter sieht ihm trau­rig hin­ter­her. Mit voller Wucht lässt er die Tür kra­chend ins Schloss fallen und dreht die Musik so laut auf, wie er es selbst gerade noch er­tra­gen kann. Dann wirft er sich frus­triert aufs Bett und starrt miss­mu­tig die Zim­mer­de­cke an.
Sein Leben ist ein Scher­ben­hau­fen. Es liegt in Trüm­mern am Boden, und wenn er bis­lang noch ge­dacht hat, er könnte es wieder re­pa­rie­ren, muss er sich jetzt ein­ge­ste­hen, dass er sich etwas vor­ge­macht hat. Gerade ist alles zu­sam­men­ge­stürzt, was er in den letz­ten Wochen ver­sucht hat zu kitten. Und um noch­mals von vorne an­zu­fan­gen, fehlt ihm die Entschlossenheit.