Leseprobe aus Zeit der Veränderung
Band 1 der Blackstorm – Reihe
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Kapitel 1
»Mensch Kira, beeil dich doch! Ich hab etwas ganz Tolles entdeckt. Wenn du das siehst, flippst du aus.«
Ashleys Stimme überschlägt sich fast. Kiras beste Freundin sitzt im Wohnzimmer der gemeinsamen Studentenwohnung und balanciert ihren Laptop auf den Knien. Lässig hält sie eine Zigarette in der Hand, die sie sich jedoch noch nicht angesteckt hat. Sie ist wieder einmal kurz vorm Durchdrehen. Mit vor Aufregung gerötetem Gesicht fährt sie sich nervös durch die Haare, die sie vor Kurzem kastanienbraun gefärbt hat. Das ist eine ihrer Macken. Mit dem Zeug auf dem Kopf, wie sie es nennt, ist sie nie zufrieden. Deshalb stylt sie sich auch immer wieder um.
Kiras Neugier hält sich in Grenzen, da Ashley alle fünf Minuten ›ganz tolle Sachen‹ im World Wide Web findet. Das ist ihre zweite und gleichzeitig größte Macke. Sie ist internetsüchtig. In jeder freien Minute surft sie im Netz. In der Mensa, in der Straßenbahn, sogar im Aufzug zückt sie ihr Smartphone und wischt mit ihrem Zeigefinger über das Display. Bestimmt hat Ashley schon Hornhaut auf der Fingerkuppe. Kira fragt sich, ob es überhaupt Seiten gibt, die ihre Freundin nicht besucht hat.
Etwas Gutes hat Ashleys Sucht aber auch. Sie hat in den letzten drei Jahren nicht locker gelassen und jede freie Minute geopfert, um Kira die Vorzüge der virtuellen Welt näher zu bringen. Über diese Hartnäckigkeit ist Kira ihr heute dankbar, da sie sich nun nicht mehr so verloren fühlt, wenn sie ihren Laptop in Betrieb nimmt.
»Ashley, wenn ich dir auch nur einen Tag lang den Laptop wegnehme, würdest du sterben.«
Kira schüttelt den Kopf und kann sich ein Lachen nicht verkneifen. Dabei fliegt ihre blonde Mähne in alle Richtungen. Ashley überhört den Scherz und rutscht unruhig von einer Pobacke auf die andere.
»Jetzt komm schon. Ich möchte endlich dein doofes Gesicht sehen, wenn ich dir das hier zeige.«
Ungeduldig klopft sie auf den freien Platz neben sich. Seufzend lässt Kira sich aufs Sofa fallen und bindet ihre fast hüftlangen Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen. Sie weiß, dass ihre beste Freundin so lange keine Ruhe geben wird, bis sie ihre ungeteilte Aufmerksamkeit hat.
Noch so eine Macke von Ashley: die Ungeduld. Alles muss immer jetzt und sofort geschehen. Wenn Ashley ›Hopp‹ schreit, müssen alle springen. Geduld ist eindeutig nicht ihre Stärke.
»Na dann zeig her«, sagt Kira scheinbar gelangweilt und täuscht ein lautes Gähnen vor.
Strafend sieht Ashley sie an und streckt ihr die Zunge entgegen. Dann dreht sie wortlos den Laptop zu ihr herum und mustert sie erwartungsvoll. Die Homepage eines Hotels in den USA ist geöffnet. Kira hat etwas vollkommen anderes erwartet und zieht verwundert eine Augenbraue hoch.
›Blackstone Hotel & Spa, Fort Myers, Florida‹ prangt am oberen Rand der Seite. In der rechten Ecke befinden sich ineinander verschlungen ein B und ein S. Sonst steht da einfach nur: ›Welcome to Blackstone Hotel – more than just relaxation‹, darunter zeigt ein Banner abwechselnd Fotos.
»OK, ein Hotel. Und was ist damit?« Kira hat absolut keinen Schimmer, was Ashley von ihr will.
»Warte. Hier …«, murmelt ihre Freundin und wechselt auf ›Hotelansicht‹. Langsam klickt sie sich durch die zum Teil atemberaubenden Bilder.
Kiras Augen leuchten begeistert, besonders als sie das Foto der Außenansicht des Haupteingangs sieht. Ein schmiedeeisernes Tor, auf dem auch wieder das ineinander verschlungene BS zu finden ist, gibt den Weg zu einer palmengesäumten Zufahrt frei. Im Hintergrund sieht sie grasende Pferde. Es vermittelt den Eindruck von Ruhe und ländlicher Idylle, ohne spießig zu wirken. Es ist eines dieser Hotels, das durch eine schlau gestaltete Außenanlage in der Landschaft zu verschwinden scheint.
Laut stößt Kira die Luft aus ihren Lungen. Sie ist augenblicklich verliebt, und dass sich das Hotel in Florida befindet, steigert dieses Gefühl ins Unermessliche. Seit sie denken kann, ist Florida ihr absoluter Traumstaat. Ihr Vater ist in Tampa geboren und aufgewachsen und sie hat, solange ihre Großeltern noch lebten, jeden Sommer mit ihren Brüdern dort verbracht.
»Planst du deinen Urlaub?«, mustert sie Ashley fragend. »Oder warum soll ich mir das anschauen?«
Ashley hat dieses spezielle Funkeln in den Augen, das sie jedes Mal hat, wenn sie etwas ausheckt. Sie klickt auf ›Come join the team‹ und Kira schwant Böses. Fassungslos liest sie die Ausschreibung für eine Stelle als Assistent General Manager. Mit hochgezogener Augenbraue sieht sie ihre Mitbewohnerin an. Langsam dämmert ihr, was sie von ihr will.
»Das ist doch die Stelle für dich. Da würdest du gut hinpassen«, platzt Ashley auch schon heraus. Wenn sie diesen Ton anschlägt, meint sie es verdammt ernst und duldet keine Widerrede. Doch das interessiert Kira reichlich wenig.
»Bist du komplett verrückt geworden? Ich hab gerade erst mein Studium abgeschlossen.«
»Und?«, fragt sie gedehnt, beugt sich zu Kira hinüber und legt den Kopf zur Seite.
»Nix und. Hier steht, dass sie jemanden mit Berufserfahrung suchen. Also hab ich sowieso keine Chance.«
»Jetzt mach mal halblang, du bist in einem Hotel groß geworden, mehr Berufserfahrung kann man gar nicht haben«, winkt Ashley ab.
»Hast du schon bemerkt, dass sich das Hotel in den USA befindet?«
»Ja und? Ich dachte, du liebst Flo.ri.da«, betont Ashley jede einzelne Silbe süffisant, dabei zieht sie ihre Nase kraus. »Außerdem besitzt du beneidenswerterweise die amerikanische Staatsbürgerschaft.«
»Das stimmt schon. Es ist auch nicht so, dass ich kein Interesse hätte, aber meine Eltern haben mich Hotelmanagement studieren lassen, damit ich einmal ihr Hotel übernehme. Und das befindet sich leider in Europa.«
»Willst du dein Leben lang das machen, was dir deine Eltern vorschreiben?«, entgegnet Ashley sichtlich genervt. »Kira, wenn ich an deiner Stelle wäre, würd› ich mich sofort bewerben. Was hast du zu verlieren?«
Verträumt betrachtet Kira nochmals die Bilder. Dort zu arbeiten hätte schon was. Ashley stellt den Laptop auf den Tisch und steht auf. Mit erhobenem Zeigefinger und tiefer Stimme verkündet sie: »Ich sage: Wer für seinen Traum kämpft, kann scheitern. Wer es gar nicht erst versucht, der ist von Anfang an gescheitert. Also los, Kira Elena Tinson, bewege deinen hübschen, kleinen Arsch. Denn eines ist sonnenklar: Wenn du dich nicht bewirbst, wirst du die Stelle auf keinen Fall bekommen.«
Mit ihrer direkten Art schafft Ashley es, Kira zu motivieren. Sie weiß genau, dass ihre Freundin zwischendurch einen Arschtritt wie diesen braucht.
»OK. OK. Du lässt ja sowieso nicht locker, bis ich die Bewerbung geschrieben habe.« Sich mit Ashley anzulegen, würde Kira nicht im Traum einfallen, dafür kennt sie ihre Mitbewohnerin viel zu gut. Sie würde ganz sicher den Kürzeren ziehen. Als Ashley bemerkt, dass sie Kira am Haken hat, ist sie nicht mehr zu halten. Aufgeregt drängt sie zur Eile.
»Dann hopp! Los. Mach schnell. Ich muss meine Bewerbungen auch noch fortbringen. Ich warte, bis du fertig bist.«
Kira stapft seufzend in ihr Zimmer und sucht die Unterlagen zusammen. Sie hätte sich gleich denken können, dass Feldwebel Ash ihr kein Schlupfloch – noch nicht einmal ein winzig kleines – für einen Rückzieher lässt. Aber Ashley hat recht. Das Hotel ist traumhaft schön und mehr als eine Absage kann Kira nicht bekommen. Mit einigen Blättern in der Hand kehrt sie ins Wohnzimmer zurück. Ashley sitzt wieder auf dem Sofa und haut wie wild in die Tasten. Flüchtig hebt sie den Kopf und sieht ihre Freundin fragend an. Nachdenklich sortiert Kira nochmals Blatt für Blatt und steckt alles fein säuberlich in eine Mappe.
»Mir fehlt nur noch ein Anschreiben, sonst hab ich alles.«
»Lass dir Zeit, ich wollte sowieso noch eine rauchen.«
Ashley klappt seufzend den Laptop zu, springt auf und grinst dabei schelmisch. Sie holt ein Feuerzeug und verzieht sich auf den winzigen Balkon. Schon nach kurzer Zeit ist sie von dicken Rauchschwaden umgeben.
Kira ist kaum mit dem Anschreiben fertig und klickt gerade auf ›Drucken‹, da streckt Ashley auch schon wieder ungeduldig den Kopf zur Tür herein.
»Wie lange brauchst du noch?« Ihre Frage klingt drängend.
»Ich dachte, ich soll mir Zeit lassen?«, stichelt Kira.
»Wie lange?«
»Reg dich ab. Ich bin soweit«, faucht Kira zurück und klebt das Kuvert zu.
* * *
Auf dem Weg zum Briefkasten kichern die Mädchen albern und malen sich die Zukunft in den schönsten Farben aus.
»Glaubst du wirklich, dass ich eine Chance habe?«, fragt Kira unsicher. Ihr Selbstbewusstsein befindet sich wieder einmal im Keller. Zögernd steht sie vor dem gelben Kasten.
»Wirf. Den. Verdammten. Brief. Ein.«
Ashley kommt ihr bedrohlich nahe und sieht sie mit zusammengekniffenen Augen an. Mit laut klopfendem Herzen lässt Kira den Umschlag in den Postkasten gleiten und bereut es im gleichen Augenblick.
»Dass ich auch immer auf dich hören muss«, seufzt sie.
Ashley hingegen ist mit sich selbst sehr zufrieden und bemerkt ungerührt: »So, das wäre geschafft. Jetzt kommt eine laaange Zeit des Wartens und ich fahre erst mal in den Urlaub.«
Ihre Gabe, in einem Satz das Thema zu wechseln, ist göttlich. Dem Ausdruck im Gesicht nach liegt sie schon am Strand und schlürft einen Cocktail. Genüsslich verzieht sie den Mund und blinzelt in die Sonne.
»Und ich fahre zu meinen Eltern nach Kärnten und beichte, dass ich nicht bei ihnen arbeiten werde«, stöhnt Kira.
Vor diesem Gespräch hat sie sich bislang erfolgreich gedrückt. Sie weiß genau, wie gerne ihre Eltern es sehen würden, dass sie im Familienhotel einsteigt. Vor fünf Jahren mussten sie schon ihren Bruder Damian ziehen lassen. Jetzt auch noch Kira den Weg freizugeben, wird ihnen verdammt schwerfallen.
»Sag bloß, du hast ihnen immer noch nichts erzählt.« Ashley rümpft die Nase und schüttelt den Kopf. Die Feigheit, die ihre Freundin diesbezüglich an den Tag legt, ist ihr unbegreiflich. »Es wird deine Eltern schon nicht umbringen.«
»Ich weiß, ich hab aber trotzdem schiss. Willst du nicht doch ein paar Tage mitkommen? So als moralische Unterstützung?«, fragt Kira hoffnungsvoll, obwohl sie die Antwort ihrer besten Freundin schon kennt.
»Nee Kira, ich hab Jens versprochen, den letzten Sommer meines Vor-der-Arbeit-Lebens mit ihm zu verbringen. Wer weiß, wo ich angenommen werde. Vor einer Fernbeziehung hab ich sowieso tierischen Bammel. Da will ich ihm wenigstens noch zeigen, was er an mir hat.«
Sie grinst frech und ihre Augen blitzen vor Vorfreude auf. Kira kann sich genau ausmalen, was Ashley mit dem armen Kerl vorhat. Sie wird Jens, den sie vor zwei Jahren im Fitnessstudio kennengelernt hat, die ganze Zeit über kaum aus dem Bett lassen. Ob das dann ein erholsamer Urlaub wird, wagt Kira zu bezweifeln. Auch wenn sie ein wenig neidisch auf ihre Freundin ist, freut sie sich, dass Ashley ihren ›Mister Right‹ gefunden hat.
Kira hatte bei Männern noch nie Glück. Ihre längste Beziehung dauerte gerade einmal ein halbes Jahr und das war in der 9. Klasse. Sie hat ein Händchen dafür, sich jedes Mal in die falschen Jungs zu verlieben. Doch noch gibt sie die Hoffnung nicht auf. Ihre Mutter behauptet immer, dass es für jeden Topf einen passenden Deckel gebe. Eines Tages wird auch sie ihren Deckel finden, davon ist Kira überzeugt.
»Und was ist mit dir? Willst du nicht mit Roland ein paar Tage gemeinsam in den Urlaub?«, stört Ashley ihre Gedanken.
Verlegen zupft Kira an ihren langen, glatten Haaren und wickelt sich eine Strähne um den Finger.
»Ich weiß ja noch nicht einmal, ob wir jetzt zusammen sind oder nicht.«
Kira kennt Roland schon ewig. Sie gingen gemeinsam in den Kindergarten und besuchten die gleiche Schule. In der 9. Klasse fing Kira an, für ihn zu schwärmen, doch die beiden schafften es nie, zur selben Zeit solo zu sein. Erst, als sie sich vor vier Wochen zufällig beim Ausgehen trafen, passierte es. Er war frei, Kira hatte auch nichts am Laufen und so knutschten sie in irgendeiner dunklen Ecke irgendeines Lokals. In den darauf folgenden Tagen verbrachten sie ein paar nette Stunden miteinander, bis er überraschend fort musste. Seitdem herrscht absolute Funkstille.
»Hat er sich schon bei dir gemeldet?«, möchte Ashley wissen. »Er müsste doch bald zurück sein, oder? Sind die drei Wochen nicht schon rum?«
»Eigentlich schon, aber ich hab noch nichts von ihm gehört. Er hat sich, genau gesagt, die ganze Zeit über nicht gemeldet.« Kira zuckt mit den Schultern und runzelt nachdenklich die Stirn. Je länger sie darüber nachdenkt, desto unsicherer wird sie. Irgendetwas stinkt hier kräftig zum Himmel.
»Also doch. Ich hab mich die ganze Zeit nicht getraut zu fragen. Du warst immer so komisch, wenn ich auf das Thema ›Roland‹ zu sprechen kommen wollte«, bemerkt ihre Freundin erschüttert.
Kiras Augen werden feucht. Schon seit Tagen hat sie diesbezüglich ein flaues Gefühl im Magen. Alle Anzeichen weisen daraufhin, dass etwas faul ist, aber noch ist Kira nicht bereit, es sich einzugestehen.
»Vielleicht hat er da oben auf dem Gletscher auch keinen Empfang«, versucht sie ihn zu verteidigen.
»Bestimmt. Dort gibt es ganz sicher auch kein Festnetz. Wahrscheinlich hat er dir Rauchzeichen geschickt und du hast sie übersehen.«
Ashley klingt verächtlich. Es liegt auf der Hand, was sie in Wahrheit denkt. Wenn er sein Herz an ihre schüchterne, aber äußerst liebenswerte Mitbewohnerin verloren hätte, müsste er ihrer Meinung nach mindestens fünf Mal am Tag anrufen.
»Hast du seine Nachricht noch? Da steht doch das genaue Datum dabei. Lass uns nachsehen, womöglich liegen wir falsch und er hockt nach wie vor auf dem Gletscher.«
Klar hat Kira die SMS abgespeichert. Umständlich holt sie das Handy aus der Hosentasche. Sie weiß ganz genau, wann Roland die Nachricht geschickt hatte. Wortlos hält sie Ashley das Telefon vor die Nase.
Roland, 03.06.2012
Sorry Kira, mein Bruder hat sich gerade bei mir gemeldet. Ich soll zu ihm ins Trainingslager kommen. Es wurde kurzfristig noch ein Platz frei. Bin in drei Wochen wieder da.
Kira muss nicht auf das Datum schauen, um zu wissen, dass er längst überfällig ist. Heute ist der vierte Juli und die drei Wochen sind längst vorbei.
»Süße, da stimmt was nicht. Mir kommt es komisch vor, dass er sich nicht bei dir meldet«, meint Ashley bedauernd.
Kira zuckt betrübt mit den Schultern. Ihre Freundin liegt sicher richtig, doch sie sehnt sich so sehr nach einer glücklichen Beziehung, dass sie krampfhaft an dem Glauben festhält, dass alles in Ordnung sei.
»Ich kann doch nicht immer nur Pech haben und dauernd an den Falschen geraten«, hängt sie bedrückt ihren Gedanken nach. Da bleibt Ashley plötzlich wie angewurzelt stehen, und Kira rennt ungebremst in sie hinein.
»Was ist?«
»Wenn man vom Teufel spricht …« Ashley zeigt mit mitleidigem Blick auf ihr Stammcafé.
»Das glaube ich jetzt nicht«, stöhnt Kira.
An einem Tisch auf der Gästeterrasse sitzt Roland mit seinem Bruder und trinkt seelenruhig ein Bier. Wie immer trägt er ein hautenges T‑Shirt, das den muskulösen Oberkörper betont. Sein blondes Haar ist zerzaust, als wäre er gerade aus dem Bett gekrochen. Eigentlich mag Kira so kurze Haare nicht, aber sie passen zu ihm und unterstreichen sein sportliches Aussehen.
Kira will gerade losgehen, um ihn zur Rede zu stellen, da taucht Jenny auf und fällt ihm um den Hals. Er hebt sie wie eine Feder in die Höhe, um sie lang und innig zu küssen. Mit offenem Mund beobachtet Kira, wie die beiden ihre Lippen aufeinander pressen. Unsanft wird sie aus Wolke 7 gestoßen. Ausgerechnet Jenny, das schwarzhaarige Flittchen aus ihrer alten Schule. Die konnte sie noch nie leiden. Das liegt hauptsächlich daran, dass sie ihr immer die Typen ausspannt. Wenn Jenny auftaucht, brennt bei den meisten Männern die Sicherung durch. Sie klimpert einmal mit den Wimpern, wackelt kurz mit dem Po und schon hat sie das Objekt der Begierde am Haken. Es gibt kein männliches Wesen im Umkreis von einhundert Kilometern, das sie nicht in ihrem Bett hatte. Bis auf Roland, aber das hat sie jetzt anscheinend nachgeholt. Von ihm hätte Kira etwas mehr Geschmack erwartet.
»Warum bin ich eigentlich so entsetzt?«, grübelt sie, »Langsam sollte ich mich daran gewöhnt haben, dass ich scheinbar nichts an mir habe, das Männer annähernd anzieht.« Unwillig schüttelt Kira den Kopf und erwacht aus ihrer Erstarrung.
»Ashley, bitte lass uns sofort verschwinden«, flüstert sie mit belegter Stimme. »Schnell, bevor er uns bemerkt.«
Eine Konfrontation mit ihm kann sie jetzt absolut nicht gebrauchen. Kira packt Ashley am Arm und will sie hinter sich herschleifen, doch ihre Freundin schüttelt den Kopf.
»Zu spät. Er hat dich gesehen. Er kommt her.«
Kira atmet tief ein, um sich einigermaßen auf das vorzubereiten, das jetzt kommen würde. »Junge, das überlebst du nicht, dich zerreiß› ich in der Luft«, flüstert sie und dreht sich wie in Zeitlupe um.
»Hallo, Kira.« Roland steht vor ihr, mit schneeweißem Gesicht und sichtlich geschockt. Er weiß genau, dass er Mist gebaut hat. Kira schweigt ihn eisig an. Sie ist auf 180. Liebend gerne würde sie ihm jetzt an die Gurgel springen.
»Ich wollte es dir sagen, wirklich …« Roland stockt, hofft vergeblich auf irgendeine Reaktion, dann schluckt er kurz und erklärt: »Nachdem du an dem Abend gegangen warst, stand plötzlich Jenny vor mir.«
Er blickt in Jennys Richtung und zuckt bedauernd mit den Schultern. Ohne hinsehen zu müssen, spürt Kira den gehässigen Blick der Konkurrentin, mit dem sie ihr zeigt, dass sie wieder einmal gewonnen hat.
»Ich stehe schon lange auf sie … und plötzlich will sie auch etwas von mir.«
»Also war das mit dem Trainingslager gelogen«, stellt Kira trocken fest und ist kurz vorm Explodieren.
»Nicht ganz, ich bin dort hingefahren, aber nicht alleine.«
Die Tatsache, dass er augenscheinlich wirklich ein schlechtes Gewissen hat und somit weiß, wie weh er ihr getan hat, macht sie noch viel wütender. Nur mit größter Mühe kann sie sich zurückhalten.
»Klasse, natürlich ist es viel bequemer, sich zu verdrücken und der doofen Kira nichts davon zu sagen. Toll!«
Ihr Magen rebelliert, sie ist kurz davor, sich zu übergeben. Jedes Mal erwischt es sie mit voller Breitseite, immer bekommt sie die Idioten ab. Kann sie nicht einmal, nur ein einziges Mal im Leben, an einen netten Kerl geraten?
»So ist es nun mal, Kira. Ich kann es nicht mehr ändern.«
Wenig Bedauern liegt in seinem Blick. Jetzt platzt Kira endgültig der Kragen. Ihre mit Sorgfalt aufrechterhaltene Selbstbeherrschung ist mit einem Schlag dahin. Ihre Gefühle brüllen sie tief verletzt an. Sie holt aus und verpasst ihm eine kräftige Backpfeife. Dass ihre Handfläche brennt, bemerkt sie kaum.
»Ich hoffe, du fällst kräftig auf die Schnauze mit deiner Jenny«, bemerkt sie bissig. »Komm danach bloß nicht angekrochen, wir sind fertig miteinander. Für immer!«
Kira wirft ihrer Freundin, die fassungslos neben ihr steht und Roland mit zornigen Augen anfunkelt, einen verzweifelten Blick zu.
»Ashley, lass uns gehen. Ich will hier sofort weg. Ich kann den Arsch nicht eine Minute länger ertragen.«
Völlig außer Fassung dreht sich Kira um und rauscht davon. Dabei bemerkt sie nicht, dass sie in die falsche Richtung läuft. Ashley rudert mit den Armen und rennt ihr hinterher. Erst in einem Park, in dem Kira total aus der Puste anhält, gelingt es ihr, sie einzuholen. Tränen rinnen Kira links und rechts die Wangen hinunter und ihr ist immer noch tierisch schlecht. Ashley steht mit weit offenen Armen vor ihr, in die Kira ohne zu zögern hineinfällt. Das ist wieder einmal typisch für ihr Leben. Da reicht es ihr den kleinen Finger, um sie dann mit voller Wucht in den Schmutz zu ziehen. Kira würde sich am liebsten in Luft auflösen.
»Ich. Will. Weg. Ich. Will. Nach. Florida.«
Stockend kommen die Worte aus Kiras Mund. Mehr denn je ist sie dankbar, dass Ashley sie überredet hat, die Bewerbung abzuschicken. Sie braucht unbedingt einen Neuanfang und das am besten so weit weg wie möglich. Den Zoff mit ihren Eltern nimmt sie nun gerne in Kauf. Hauptsache sie kann den ganzen Mist hier hinter sich lassen. Roland und seine Jenny immer wieder zu Gesicht zu bekommen, könnte sie auf Dauer nicht ertragen.
»Jetzt beruhige dich doch erst mal, Süße.«
Ashley streicht ihrer Freundin liebevoll über den Rücken und reicht ihr ein Taschentuch. Gemeinsam setzen sie sich auf eine Parkbank, und Kira putzt sich geräuschvoll die Nase.
»Ist doch super gelaufen«, bemerkt sie sarkastisch, nachdem sie aufgehört hat zu weinen.
»Der hat dich doch gar nicht verdient, der Blödmann.«
»Der Blödmann ist der einzige Grund gewesen, warum ich hier bleiben wollte. Deshalb hab ich zu Hause nichts von meinen Wünschen erzählt.«
»Na, das hat sich zum Glück erledigt. Jetzt bist du frei und musst hier nicht mehr versauern.« Ashley boxt Kira aufmunternd gegen die Schulter und lächelt sie vorsichtig an.
»Stimmt. Nun ist alles anders, deshalb muss ich dringend weg. Die USA wären genau das Richtige – weit genug weg und trotzdem nicht das Ende der Welt. Das Leben hat mir wieder einmal gezeigt, dass es absolut nichts für mich übrig hat.«
Kiras Selbstbewusstsein schmollt zwar schon wieder im Keller, aber sie ist endlich bereit, Nägel mit Köpfen zu machen. Sie hat nichts mehr zu verlieren, es kann nur noch besser werden. Mit einem Mal hat sie keine Angst mehr davor, mit den Eltern zu reden. Sie zückt ihr Handy. »Ich ruf jetzt zu Hause an.«
»Genau. Erzähl es ihnen. Der Tag ist ohnehin schon für›n Arsch. So geht›s dir wenigstens nur einmal dreckig.«
Trotz der beschissenen Lage muss Kira lächeln. Aufgemuntert von Ashleys Worten wählt sie die Nummer ihrer Eltern. Schon nach dem ersten Klingeln hebt ihre Mutter ab.
»Hi Mom, ich bin›s, Kira.«
Ihr bleiben die Worte fast im Hals stecken. Was sie zu sagen hat, wird für ihre Eltern nicht einfach zu verarbeiten sein. Aber sie erkennt nun ganz klar, was sie wirklich will. Und ganz sicher möchte sie nicht ihr Leben im elterlichen Hotel fristen.
»Es tut mir leid Mom, aber ich muss dir etwas Wichtiges sagen. Ich hab mich für ein paar Stellen beworben, unter anderem für eine in den USA. Ich will erst einmal nicht in unserem Hotel arbeiten. Ich möchte Erfahrungen sammeln.«
Am anderen Ende der Leitung bleibt es still. Kira befürchtet schon, dass ihre Mutter einfach aufgelegt hat, da vernimmt sie einen lauten Seufzer.
»Das muss ich jetzt erst verdauen, mein Mäuschen. Komm nach Hause, dann reden wir darüber. Paps und ich werden dich in allem unterstützen, was dich glücklich macht. Auch wenn wir uns etwas anderes gewünscht haben. Wir lieben dich und egal wofür du dich entscheidest, wir werden hinter dir stehen.«
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Kapitel 2
So schlechte Laune wie heute hatte Ryan schon lange nicht mehr. Auf dem Schreibtisch stapeln sich die Bewerbungen. Eigentlich sollte er über die Resonanz auf die Stellenanzeige froh sein, aber komischerweise ist keiner der Bewerber wirklich geeignet für die Stelle. Lustlos nimmt er die nächste Mappe in die Hand. Er würde jetzt viel lieber alles stehen und liegen lassen. Sehnsuchtsvoll schaut er aus dem Fenster. Vom Büro aus kann er bis zu den Koppeln sehen.
Das Hotel ist die eine Sache, die ihm seine Eltern hinterlassen haben, die Pferde die andere. Die Leidenschaft zu diesen Tieren hat er von der Mutter geerbt. Sie hatte ihre Pferde abgöttisch geliebt. Es war ihre Idee gewesen, das brachliegende Land hinter dem Hotel nicht zu einem Golfplatz umzubauen, sondern darauf Pferde zu züchten. Obwohl sein Vater die Begeisterung nicht teilte, konnte sie ihn überzeugen. Die ersten drei Stuten hatte sie in Deutschland gekauft, decken und einfliegen lassen. Im darauf folgenden Frühjahr sprangen schon die Fohlen auf der Koppel herum, spätestens da hatte der Pferdevirus auch seinen Vater gepackt.
Ryan schluckt ein paar Mal, um die Tränen zu unterdrücken. Der Schmerz sitzt noch immer viel zu tief.
Vor elf Jahren hatte seine Mutter sich endlich den Traum von einem eigenen Deckhengst erfüllt. Blackstorm, ein wunderschöner, vierjähriger Oldenburger zog auf der Farm ein. Von Anfang an war es sein Pferd gewesen und schon nach kurzer Zeit waren sie ein eingespieltes Team. Er nahm mit dem Hengst an einigen Turnieren teil. Da er dabei recht erfolgreich war, beschlossen seine Eltern, ihn zum Trainieren nach Europa zu schicken. Bei einem ihrer Besuche passierte dann der schreckliche Autounfall, bei dem er Mutter und Vater verlor. Blackstorm hat den Unfall überlebt. Körperlich war dem Pferd fast nichts geschehen, aber seine Seele hatte erheblichen Schaden genommen. Seither ist er unberechenbar und gefährlich.
Ein riesengroßer Kloß steckt ihm im Hals. Ryans Brust fühlt sich an, als wäre sie mit einer schweren Eisenkette zugeschnürt. Er spürt den Schmerz immer noch genauso stark wie am ersten Tag. Und dieser Schmerz kommt mit voller Wucht immer wieder, jedes Mal, wenn er bei den Pferden ist. Aus diesem Grund vermeidet er, so gut es geht, in die Stallungen zu gehen. In einen Sattel ist er seit Ewigkeiten nicht gestiegen.
Suchend schweift sein Blick über die Wiese. Unter einem Baum entdeckt er ihn endlich. Blackstorm steht mit gesenktem Kopf friedlich da und grast. Der schwarze Hengst ist immer noch ein prachtvolles Tier und hat erfolgreich einige Fohlen gezeugt. Leider vertraut er niemandem mehr. Da er keinen Menschen mehr in die Nähe lässt, steht er seit zehn Jahren alleine auf der Koppel. Es war nicht leicht, ihn wieder aus Europa hierher zu bringen, er musste die ganze Zeit über betäubt werden. Damals hatten ihm viele geraten, sich von dem Tier zu trennen. Keiner sah einen Sinn darin, den Hengst am Leben zu lassen, da er in ihren Augen sowieso verdorben war. Doch ihn einfach zu töten, das kam für Ryan nicht infrage. Der Rappe ist das Einzige, das ihm von den glücklichen Zeiten mit seinen Eltern geblieben ist.
Nun ist es an der Zeit, sich den Dämonen zu stellen. Er muss sich endlich um Blackstorm kümmern. Schließlich hat er sich geschworen, nicht aufzugeben, bis der Rappe ihm abermals vertraut. Er wird alles versuchen, um wieder einen Zugang zu dem Hengst zu finden. Seufzend lenkt er die Gedanken zu seiner Aufgabe zurück. Er muss dringend jemanden finden, in dessen Hände er später die Leitung des Hotels legen kann. Schweren Herzens wendet er sich wieder den Bewerbungen zu und sieht sich Mappe für Mappe an.
Nervös dreht er an seinem silbernen Ring – ein Andenken an den Vater – und kaut auf der Unterlippe. Immer wieder zieht er sie durch die Zähne. Das macht er oft, wenn er sich nicht wohlfühlt oder aufgeregt ist. Schließlich legt er nachdenklich das Kinn auf seine zu einer Faust verschränkten Hände. Die einen haben zu wenig Erfahrung, die anderen sind zu alt. Er will ein junges Team um sich herum haben. Darin besteht sein Hauptproblem: Jemanden zu finden, der jung ist, aber trotzdem die Aufgaben meistern kann. Diese Kombination ist fast unmöglich. Er sucht nach der besagten Nadel im Heuhaufen.
* * *
»Guten Morgen, Ryan. Hier habe ich noch einige Bewerbungen für dich.«
Mila kommt – nein, sie tanzt – ins Büro und knallt ihm ein paar Mappen auf den Tisch. Seine Schwester ist wie immer schrecklich gut gelaunt, auch so früh am Morgen. Er verdreht die Augen. Nimmt es denn nie ein Ende? Wie erschlagen sitzt er am Schreibtisch und reibt sich nervös den Nacken. Er kann es nicht ausstehen, im Büro eingesperrt zu sein.
»Jetzt mach doch nicht so ein Gesicht. Sei doch froh, dass es so viele sind. Da ist sicher jemand dabei, der deinen hohen Erwartungen entspricht.«
Sie grinst ihn an und legt die Hand auf seine Schulter. Mila weiß genau, wie sehr es ihr Bruder hasst, Büroarbeiten zu erledigen. Immerhin hat sie deshalb die letzten Jahre diese Aufgabe erledigt.
»Mila, du hast mich in diese Situation gebracht, als du dich dazu entschlossen hast, mich hängen zu lassen.«
Vorwurfsvoll ruht sein Blick auf ihr. Seine Schwester hat vor, nach Key Largo zu ziehen. Dort hat sie vor Kurzem einen Job in einem Nationalpark ergattert. Zwei ihrer zukünftigen Mitarbeiter hatten ein paar Tage bei ihnen im Blackstone verbracht und zufällig die freie Stelle erwähnt. Kurz darauf hatte sie einen Vorstellungstermin und wurde angenommen. Seither ist sie mit den Gedanken woanders. Sie sehnt sich danach, endlich wieder als Biologin zu arbeiten. Ihr fehlt die Arbeit mit den Tieren.
»Du weißt genau, dass das hier nur als Übergangslösung gedacht war, bis du volljährig bist. Ich bin schon viel zu lange geblieben. Ryan, ich habe nicht vor, hier ewig zu versauern.«
Traurig schaut sie ihn an. Ihr ist dieser Schritt nicht leicht gefallen. Deshalb hat sie auch so lange damit gewartet. Doch wenn sie jetzt nicht geht, würde sie so schnell nicht mehr von dem Hotel loskommen. Außerdem ist ihr der neue Job wirklich wichtig.
»Es wird Zeit, dass du dein Leben selbst in die Hand nimmst. Du kommst damit klar, ich weiß es.«
Nach dem Unfall der Eltern hat Mila den Job in der Forschungsstation aufgegeben. Nur so konnte sie sich um den jüngeren Bruder und den elterlichen Betrieb kümmern. Jetzt aber soll Ryan ihn endlich alleine führen. Immerhin ist er mittlerweile fünfundzwanzig, hat sein Studium vor zwei Jahren erfolgreich abgeschlossen und leistet seither sowieso die Hauptarbeit.
Mila atmet tief ein und kann einen lauten Seufzer nicht unterdrücken. In den letzten zehn Jahren hat er es ihr nicht immer leicht gemacht. Schon ein paar Mal war sie kurz davor, alles hinzuschmeißen. Oft war sie so verzweifelt, dass sie glaubte, mit der Verantwortung nicht zurechtzukommen. Für Ryan war es die schlimmste Zeit seines Lebens gewesen, wofür sie durchaus Verständnis hatte. Immerhin war er damals vor Ort, als es geschah, und musste alles live mit ansehen.
Das war ihr zum Glück erspart geblieben. Trotzdem war selbst für sie die Tatsache, an einem Tag Vater und Mutter zu verlieren, schwer zu verarbeiten. Und an dem Tag hat sie genau genommen auch den Bruder verloren. Als er aus Europa zurückkam, war er nicht mehr der Ryan, den sie kannte. Nichts war von dem lebensfrohen, unbekümmerten Teenager übrig geblieben. In seinen Augen fehlte das schelmische Funkeln, das sie so sehr geliebt hatte.
Er hat eine dicke Mauer um sich herum aufgebaut und war seither verschlossen und launisch. Niemand durfte ihm zu nahe kommen, und er reagierte auf alles mit Ablehnung. Andauernd drehte er wegen jeder Kleinigkeit durch. Immer wieder musste sie ihn damals bei der Polizei abholen, weil er sich fast bis zur Besinnungslosigkeit betrunken oder geprügelt hatte. Wenigstens hatte sie nie Drogen bei ihm gefunden. Diese Zeiten sind zum Glück vorbei, wobei sie die Mauer bis heute nicht zum Einsturz bringen konnte. Nichts kann ihn dazu bewegen, mit Mila über das schreckliche Erlebnis zu reden. Traurig betrachtet sie ihren kleinen Bruder.
»Mila, dass ich das gerade nicht ernst meinte, das weißt du doch, oder?«, entschuldigt er sich bei ihr, »Obwohl ich nichts dagegen hätte, wenn du hier bleiben würdest.«
Er sieht Mila treuherzig an und macht einen Schmollmund. Ryan weiß ganz genau, wie er seine Schwester um den Finger wickeln kann. Sie schüttelt lachend den Kopf. Es ist ihr durchaus bewusst, wie sehr ihr Bruder an ihr hängt. Schließlich fühlt sie genauso. Doch es wird nun Zeit, dass jeder seinen eigenen Weg geht. Was natürlich nicht heißen soll, dass sie ganz aus seinem Leben verschwinden wird.
»Keine Chance, Brüderchen, mein Entschluss steht fest. Du hast noch sechs Wochen. Bis dahin solltest du jemanden für die Stelle gefunden haben. Je eher desto besser, dann kann ich, wie ich es dir versprochen habe, denjenigen noch einweisen.«
Sie stellt sich hinter ihn, legt ihm die Hände auf die Schultern und massiert sie mit sanftem Druck. Genüsslich schließt er die Augen und lässt den Kopf nach vorne fallen. Mila wird es leicht ums Herz. Wenigstens erträgt er mittlerweile wieder ihre Berührungen. Nicht nur das. Er hält sie nicht nur aus, sondern kann sich sogar dabei entspannen. Es hat eine lange Zeit gebraucht, bis sie ihn wieder in die Arme schließen durfte.
»Es ist nicht einfach, Ersatz für dich zu finden«, bemerkt er leise.
Mila knetet grinsend weiter, ihr Plan scheint aufzugehen. Was Ryan nicht weiß ist, dass sie ihm die besten Bewerbungen vorenthält. Er ist kurz davor, die Geduld zu verlieren. Um das zu beschleunigen, gießt sie noch ein wenig Öl ins Feuer.
»Du kannst es ja auch mit Olivia versuchen.«
Sie wuschelt ihm durch die Haare, obwohl sie weiß, dass er das nicht leiden kann. Wie erwartet schnaubt er laut.
»Olivia ist die Letzte, die ich nehmen würde.«
Ryan bekommt schon Kopfschmerzen, wenn er nur an sie denkt. Wenn sie nicht die Schwester seines besten Freundes wäre, hätte er ihr längst Hotelverbot erteilt. Sie raubt ihm manchmal den letzten Nerv. Er kann es nicht leiden, wenn ihn jemand anschmachtet. Und Olivia ist besonders gut im Anschmachten. Andauernd hat sie dieses dümmliche Grinsen im Gesicht, wenn er in der Nähe ist. Und immer wieder muss er ihre Hände abwehren, da sie die Finger nicht von ihm lassen kann und ständig versucht, ihn anzutatschen. Außerdem kann er kein vernünftiges Gespräch mit ihr führen, da sie immer seiner Meinung ist. Er und Olivia? Ein absolutes ›No Go‹. Er würde es keine Woche, noch nicht einmal einen Tag mit ihr aushalten. Dass sie zwischendurch im Hotel aushilft, ist eine Sache, aber jeden Tag, das würde nie im Leben funktionieren. Er spürt, wie er eine Gänsehaut bekommt, und es schüttelt ihn leicht.
»Mila, ich drehe hier noch durch, kannst du nicht eine Vorauswahl für mich treffen?«
Genau auf die Frage hat Mila gewartet. Jetzt hat sie ihn dort, wo sie ihn haben will. Nun würde sie ihren Plan mit Leichtigkeit in die Tat umsetzen.
»Komm, gib schon her, ich schaue sie mir an. Gib mir eine Stunde, bis dahin sollte ich durch sein. Wir treffen uns am Pool.«
Ryan atmet erleichtert auf. Dass er Mila so schnell überreden konnte, kommt ihm zwar etwas komisch vor, aber er ist zu dankbar, um länger darüber nachzudenken. Überglücklich stapelt er die Bewerbungen und gibt sie der Schwester. Mila schnappt sich die Mappen und verschwindet ohne ein weiteres Wort aus dem Büro. In ihren Augen blitzt es verdächtig. Zum Glück hat ihr Bruder genau so reagiert, wie sie es erwartet hat. Sie hat schon vor Tagen fünf Bewerbungen aussortiert, die sie Ryan nun vorsetzen will, und nur eine davon sollte ihn wirklich ansprechen. Das ist ihre einzige Chance, Einfluss auf die Besetzung der Stelle zu nehmen. Sie muss ihm das Gefühl geben, die Entscheidung selbst getroffen zu haben, sonst wird Ryan jeden Vorschlag als Bevormundung ansehen und sofort ablehnen. Bei der Auswahl, die sie ihm gleich geben wird, dürfte das jedoch kein großes Problem sein.
Zufrieden liegt Mila kurze Zeit später in ein Buch vertieft am Pool. Wenn Ryan wüsste, was sie ausgeheckt hat, würde er nie mehr mit ihr reden. Es dauert nicht lange, da sieht sie ihren kleinen Bruder auch schon kommen. Wie immer zieht er sämtliche Blicke der Frauen auf sich. Ryan wird mal da und mal dort von den weiblichen Gästen aufgehalten und kurz in ein Gespräch verwickelt. Mila beobachtet die Szene grinsend.
»Mädels, an meinem Bruder beißt ihr euch alle die Zähne aus«, schmunzelt sie.
Ryan gibt sich charmant, bleibt aber immer höflich auf Abstand. Nach ein paar Minuten hat er sich endlich bis zu seiner Schwester durchgeboxt und lässt sich stöhnend neben ihr auf der Liege nieder.
»Du hast ja mal wieder allen Damen den Kopf verdreht, wie ich sehe«, begrüßt sie ihn.
»Und bist du fündig geworden, Schwesterchen?« Ryan überhört die Anspielung und mustert interessiert die Mappen auf dem Tisch.
»Ich glaube schon, wobei du recht hast, es sind nicht viele dabei, die zu uns passen.«
Mila beobachtet verstohlen, wie er sich die erste Mappe nimmt. Sie hat mit Absicht lauter Leute ausgesucht, die zwar von der Qualifikation her auf die Stelle passen, aber optisch oder altersmäßig nicht infrage kommen. So hat Ryan keine andere Wahl, als sich für die letzte Bewerbung zu entscheiden.
Nachdem Ryan die ersten vier enttäuscht weggelegt hat, schlägt er frustriert die letzte Mappe auf. Ein hübsches, blondes Mädchen mit lichtblauen Augen lacht ihm entgegen. Mit einem schnellen Blick auf die Altersangabe klappt er enttäuscht auch diese Mappe wieder zu. Sie ist erst dreiundzwanzig Jahre alt. Zu jung. Was hat Mila sich dabei gedacht? Er hält ihr die Unterlagen hin.
»Was willst du mit dem Zuckerpüppchen hier?«
»Lies es dir doch erst einmal genauer durch. Ich weiß, dass sie noch verdammt jung ist. Aber sie könnte trotzdem qualifiziert genug sein.«
Mila zuckt scheinbar gleichgültig die Schultern, obwohl ihr Herz vor Aufregung wie verrückt klopft. Erstaunt hebt er eine Augenbraue, um dann noch einmal die Unterlagen in Augenschein zu nehmen.
»Das ist jetzt nicht dein Ernst, oder?«, rutscht es ihm heraus und er sieht seine Schwester ungläubig an. »Mila, sie kommt gerade erst von der Uni. Ich glaube nicht, dass das eine gute Wahl ist.«
»Warum nicht?«
»Weil ich keine Zeit habe, mich mit kleinen Mädchen zu beschäftigen. Ich brauche Hilfe, nicht noch mehr Arbeit.« Seine Stimme klingt trotzig, und kurz sieht sie den fünfzehnjährigen, heißblütigen Jungen von damals in seinen Augen aufblitzen. »War sonst niemand dabei, der geeigneter ist?«
»Ryan, ich habe dir herausgesucht, was meiner Meinung nach infrage kommt. Aber du kannst gerne nochmals alle Bewerbungen selbst durchschauen, ich habe sie in meinem Büro.«
»Das sollte ich vielleicht wirklich tun.« Seine Antwort ist patzig, und Mila schüttelt traurig den Kopf. Das läuft gerade nicht so, wie sie es gehofft hatte.
»Reg dich ab. Wenn du der Meinung bist, dass sie nicht diejenige ist, der du die Stelle geben möchtest, dann nimm jemand anderes. Das ist jetzt deine Sache. Ich mische mich da nicht mehr ein.«
Sie setzt ihre Sonnenbrille auf und gibt ihm damit zu verstehen, dass sie darüber nicht weiter streiten möchte. Mila kennt ihren Bruder gut genug, um zu wissen, dass sie jetzt einen Rückzieher machen muss, um doch noch zu punkten. Jedes weitere Argument würde nur das Gegenteil bewirken.
»Ich hole dir die anderen Unterlagen. Und frag mich bitte nie mehr um meine Meinung. Ich habe keine Lust mich von dir anschnauzen zu lassen.«
»Werde ich sicher auch nicht mehr tun.« Seine Stimme klingt bedrohlich. Seine Augen sind dunkel, es sieht fast so aus, als ob ein gewaltiger Sturm in ihnen tobt. Mila merkt, wie die Wut in ihm hochkocht. Sie blickt bis heute nicht durch, wann und warum seine Stimmung umschlägt. Sie weiß nur, wenn sie jetzt nicht geht, würde sie es bereuen. Er würde zwar nicht handgreiflich werden, aber es würde in einem hässlichen Streit enden. Deshalb schnappt sie sich ihr Handtuch und lässt ihren Bruder einfach stehen.
Ryan verschränkt die Arme vor der Brust und beobachtet mit finsterer Miene, wie sie im Hotel verschwindet. Er ist sich sicher, dass Mila ihm heute Abend den Ausbruch vorhalten wird. Er wird sich etwas einfallen lassen müssen, um sie zu besänftigen. Dass er gerade die Fassung verloren hat, tut ihm leid. Es ist nur so frustrierend, dass bei den vielen Bewerbungen nichts Passendes dabei ist. Als Mila ihm dann auch noch dieses blutjunge Mädchen unterjubeln wollte, hat er rot gesehen.
»Was findet Mila nur an ihr?«, rätselt er. »So jung, wie sie ist, kann sie doch gar nicht infrage kommen.«
Nachdenklich öffnet er noch einmal die Mappe. Gedankenverloren betrachtet er ihr Foto. Plötzlich hat er das Gefühl, dass ihre Augen ihn durchdringen. Sie scheinen in Tiefen einzutauchen, in die er noch niemanden hineingelassen hat. Verwirrt starrt er das Foto an. Einerseits wurde er von ihrem Blick magisch angezogen, andererseits spürt er eine gewisse Gefahr von ihr ausgehen. Doch genau das reizt ihn, macht ihn neugierig. Er blättert die Unterlagen durch und beginnt zu lesen. Kira Elena Tinson aus Österreich. Eine Bewerbung aus Europa. Damit hat er nicht gerechnet. Gespannt liest er weiter und stellt fest, dass sie mehr als nur vom Fach ist.
»OK, Mila hat sich doch etwas dabei gedacht«, murmelt er vor sich hin.
Sein berufliches Interesse ist nun ebenfalls geweckt. Dass sie aus dem Hotelgewerbe stammt und damit groß geworden ist, macht sie viel qualifizierter als andere, auch deutlich ältere Bewerber. Außerdem können sich ihre Ausbildung und Zeugnisse sehen lassen. Das alles und die Tatsache, einmal live in diese saphirblauen Augen sehen zu wollen, führen dazu, dass ihm die Entscheidung plötzlich sehr leicht fällt. Mit einem lauten Seufzer schließt er die Mappe und steht auf. Mila hat mal wieder recht gehabt. Dieses Mädchen ist sehr wohl eine gute Wahl.
Ryan findet seine Schwester in ihrem Büro, wo sie schmollend am Computer sitzt. Lässig lehnt er sich an den Türrahmen und klopft zögerlich an die Glasscheibe. Mit einem bitterbösen Blick starrt sie ihn an.
»Was?«
»Darf ich reinkommen? Ich habe mir die Unterlagen noch einmal angesehen.«
»Und was willst du jetzt von mir?«
»Ich wollte dir nur sagen, dass ich mich für einen von deinen fünf Vorschlägen entschieden habe.«
Mila hält vor Schreck die Luft an. Jetzt kann sie nur hoffen, dass er richtig gewählt hat. »Und wer soll es nun sein?«
»Ich denke, ich werde es mal mit dem Mädchen aus Österreich probieren. Ich muss zugeben, dass ihre Voraussetzungen gar nicht so schlecht sind.«
Mila atmet erleichtert aus, den Rest muss sie nunmehr dem Schicksal überlassen. Wenn ihr Freund richtig liegt und Kira wirklich so ist, wie er sie beschrieben hat, würde ihre Rechnung aufgehen.
»Schön«, sagt sie knapp.
»Mehr hast du dazu nicht zu sagen? Ich dachte, du wolltest unbedingt die Stelle mit ihr besetzen.«
Mila grinst, denn so ist es auch, aber das wird sie ihrem Bruder sicher nicht auf die Nase binden. Also schaut sie ihn gelassen an und bemerkt spöttisch: »Mir ging es nur gegen den Strich, dass du meine Entscheidung als hirnrissig abgetan hast. Du solltest mich besser kennen.«
»Tut mir leid Schwesterchen. Ich mach›s auch gut. Wie wäre es mit einem Besuch in Disney World? Wir waren schon so lange nicht mehr dort.«
Ryan ist sichtlich geknickt, deswegen nickt Mila besänftigt. Disney eignet sich besonders gut, um sie gnädig zu stimmen. Außerdem würde ein freier Tag auch Ryan gut tun.
»Kannst du für mich herausfinden, wie spät es in Europa ist? Vielleicht kann ich noch heute telefonisch zusagen«, bittet Ryan vorsichtig.
»Dort ist es gerade kurz nach Mittag, du kannst also getrost anrufen.«
»Gut, dann mache ich das gleich.«
Ryan geht in sein Büro und wählt die angegebene Nummer. Es kommt ihm wie eine halbe Ewigkeit vor, bis endlich jemand abhebt.
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Kapitel 3
Zitternd legt Kira das Telefon auf den Tisch. Ihre Hände sind schweißnass und ihr Herz klopft ihr bis zum Hals. Als auch noch ihre Beine drohen, nachzugeben, lässt sie sich kraftlos in einen Sessel plumpsen. Sie kann immer noch nicht fassen, was gerade passiert ist.
»Scheiße, bin ich gerade wach? Oder träume ich?«, schießt es ihr durch den Kopf.
»Alles in Ordnung, Schatz?« Kiras Mutter sieht sie besorgt an, wie sie es schon das ganze Telefonat über getan hat. Vorsichtig stellt sie ihrer Tochter die nächste Frage. »War das gerade ein Anruf aus Florida? Du bist ganz weiß im Gesicht. Du hast doch nicht etwa eine Absage bekommen?« Sie geht vor ihrem Mädchen in die Hocke und legt die Hände auf Kiras Knie. Kira kichert hysterisch und schüttelt den Kopf.
»Nein Mom, ich hab die Stelle! Zwar erst mal nur für ein Jahr, aber ich habe sie«, haucht sie. »Kannst du mich mal zwicken, damit ich sicher sein kann, dass ich nicht träume?«
Ihrer Mutter fällt die Kinnlade herunter, dann fängt auch sie an zu lachen und drückt Kira fest an sich. »Mensch Mäuschen, das ist doch toll. Das hast du dir doch so gewünscht.«
»Er will mir noch heute einen Flug buchen. Ich soll in vierzehn Tagen rüberfliegen.« Kira ist total aus dem Häuschen und bemerkt nicht, dass ihre Mutter sie entsetzt ansieht.
»So schnell schon? Ich dachte, du bleibst wenigstens noch diesen Sommer bei uns.«
Kira schüttelt den Kopf. Langsam beruhigt sie sich etwas und hört auf zu zittern. »Er wollte, dass ich sofort komme. Ich konnte nur mit Mühe und Not noch ein paar Tage rausschlagen«, erklärt sie.
»Dann wirst du dort wohl dringend gebraucht. Lass uns das gleich Papa erzählen.«
»Mach du das bitte, ich muss auf der Stelle Ashley anrufen.« Hastig springt Kira auf, schnappt sich ihr Handy und verzieht sich in ihr Zimmer. Vor Aufregung fällt ihr beim Wählen fast das Telefon aus der Hand. Unruhig tigert sie in ihrem Zimmer herum, bis Ashley endlich abhebt.
* * *
»Hi Kira. Jetzt lass mich doch mal telefonieren, Jens.«
Kira hört ein Kichern im Hintergrund. Ashley ist seit einigen Tagen mit ihrem Freund im Urlaub.
»Hau schon ab und hol uns was zu trinken. Tut mir leid, Kira, aber jetzt bin ich ganz Ohr.«
»Ashley, sitzt du gerade?«, fragt Kira ungeduldig.
»Nee, ich liege am Pool. Was ist los?«
»Ich hab eben mit Ryan Dearing telefoniert«, erklärt Kira geheimnisvoll.
»Und? Muss ich den kennen?« Ashley klingt genervt und Kira fällt es schwer, ruhig zu bleiben.
»Hm, ich dachte, es interessiert dich vielleicht. Ihm gehört das Blackstone. Ich soll für ihn arbeiten.«
Ashley kreischt so laut ins Telefon, dass Kira es armlang von sich weg hält, um nicht einen Gehörschaden zu bekommen, »Verarsch mich nicht. Du hast den Job? Du hast die Traumstelle in Florida?«
Kira wartet, bis ihre Freundin endlich Luft holt. »Ja, in zwei Wochen geht›s los. Wann kommst du zurück? Sehen wir uns noch, bevor ich fliege?«
»In zehn Tagen. Ich freue mich so für dich. Und was hast du für einen Eindruck? Was hat er für eine Stimme? Was hat er erzählt?« Ashley plappert ohne Punkt und Komma. Man könnte fast meinen, sie hätte den Job bekommen und nicht Kira, so aufgeregt ist sie.
»Nicht viel, nur, dass seine Schwester aus dem Hotel aussteigt und deshalb die Stelle frei geworden ist. Ich möchte nicht wissen, was er jetzt von mir denkt«, stöhnt Kira, als sie sich das Gespräch mit Ryan Dearing ins Gedächtnis zurückruft. »Vielmehr als ›Yes‹ und ›OK‹ hab ich nämlich nicht heraus bekommen. Ich hab mich so was von blamiert.«
Ashley verschluckt sich beinahe vor Lachen. »Das kann ich mir bei dir nicht vorstellen, du kannst doch super Englisch. Du übertreibst wieder.«
»Tu ich gar nicht, ich hab mir vor Aufregung fast in die Hose gemacht.«
»Ist doch egal, Kira. Du hast den Job bekommen. Jetzt kannst du zeigen, was du auf dem Kasten hast. Dann wird er schon merken, dass du unschlagbar bist. Warum musst du überhaupt so schnell antanzen? Soll ich dich zum Flughafen bringen?«
»Ja, das wäre schön. Er meinte, seine Schwester soll mich vor ihrer Abreise einarbeiten, sie sei aber nur noch sechs Wochen da«, erklärt Kira, als sie endlich zu Wort kommt. »Ich möchte dich unbedingt noch einmal sehen, bevor ich nach Florida fliege.«
»Du glaubst doch nicht, dass du einfach so abhauen kannst?«
»Will ich auch gar nicht. Dann sehen wir uns, wenn du wieder da bist, und bis dahin genieße deinen Urlaub.«
»Ich melde mich sofort, wenn ich zurück bin. Man, ich glaube es nicht.«
Kira hört noch, wie Ashley aufgeregt Jens die Neuigkeit mitteilt, dann hat sie aufgelegt.
* * *
Kira lässt sich verdattert auf ihr Bett fallen und starrt an die Decke. Verträumt beobachtet sie das Schattenspiel an der Wand. Noch bekommt sie die Neuigkeit nicht richtig in den Kopf. Sie schließt die Augen und versucht sich die Bilder des Hotels in ihrer Erinnerung wachzurufen. Da ihr das nur schwer gelingt, beschließt sie, sich noch mal die Website anzusehen. Ungeduldig wartet sie, bis ihr Laptop hochgefahren ist, und gibt ›Blackstone‹ bei Google ein. Es dauert eine Weile, bis sie das richtige Hotel gefunden hat. Insgesamt zwölf Hotels mit diesem Namen gibt es in den USA und nochmals vier in anderen Ländern. Aufs Neue liest Kira Seite für Seite durch und betrachtet gedankenverloren die Fotografien. Sie hofft, Informationen über ihren Arbeitgeber zu finden, entdeckt aber nichts Brauchbares.
Ryan Dearing ist zwar als Besitzer und Geschäftsführer des Hotels angegeben, aber das ist auch schon alles. Nirgendwo steht etwas Genaueres über ihn, nur dass er mit der Schwester nach dem Tod ihrer Eltern den Betrieb übernommen hat. Von den beiden gibt es auch keine Fotos. Ein bisschen seltsam findet Kira das schon. Warum gibt es keine Infos über die Zwei? Sie denkt gerade über mögliche Gründe nach, da meldet sich das E‑Mail-Programm. Neugierig öffnet sie ihr Postfach. Jetzt hat sie es schwarz auf weiß. Eine Nachricht von ihrem zukünftigen Chef. Er hat tatsächlich wie versprochen direkt nach dem Gespräch gebucht. Jetzt bleibt ihr nichts anderes mehr übrig, als an ihr Glück zu glauben. Sie hat die Stelle wirklich bekommen.
»Also hab ich ihn mit meinem Gestottere doch nicht verschreckt«, stellt sie erstaunt fest. Ihre Mundwinkel zucken und ein Grinsen zeichnet sich in ihrem Gesicht ab, das immer breiter und breiter wird.
»Amerika, ich komme!«
An: Kira Tinson
Datum: 12.07.2012
Betreff: Flugtermin
Miss Tinson,
ich freue mich über Ihre Zusage und erwarte ungeduldig Ihre Ankunft.
Ich habe Ihnen, wie versprochen, einen Flug von München nach Orlando gebucht. Das E‑Ticket mit den Flugdaten finden Sie im Anhang. Wir werden Sie in Orlando am Flughafen abholen.
Ich habe während unseres Telefonats vergessen zu erwähnen, dass Ihnen Ihre Arbeitskleidung selbstverständlich gestellt wird. Alles Weitere besprechen wir, wenn Sie angekommen sind.
Ryan Dearing
General Manager, Blackstone Ranch & Spa
»Wieso nach Orlando? In Fort Myers gibt es auch einen Flughafen«, wundert sich Kira und runzelt nachdenklich die Stirn. Da ihr beim besten Willen kein Grund einfällt, hört sie auf zu grübeln und tippt schnell eine Antwort.
An: Ryan Dearing
Datum: 12.07.2012
Betreff: Flugticket
Mister Dearing,
ich möchte Ihnen hiermit mitteilen, dass ich Ihre E‑Mail erhalten habe.
Das Ticket werde ich gleich ausdrucken.
Vielen Dank, dass Sie die Kosten für meinen Flug übernehmen.
Ich freue mich auf meine Aufgaben in Ihrem Hotel.
Kira Tinson
Vorfreude überkommt Kira. Vorfreude auf die neuen Eindrücke und Erfahrungen, die sie in Florida sammeln wird. Dass sie gänzlich ins Unbekannte aufbrechen wird, verursacht ihr dennoch Bauchschmerzen.
»Warum zum Kuckuck finde ich nichts über meinen neuen Arbeitgeber?«, murmelt sie und widmet sich wieder ihren Nachforschungen.
Viel möchte sie ja gar nicht wissen. Aber wenigstens, wie er aussieht und wie alt er ist. Wenn doch nur Ashley hier wäre. Die wüsste genau, welche Schlüsselwörter sie benutzen müsste. Sie behauptet immer, dass man im Internet über jeden etwas finden könne. Aber ihre Freundin liegt nun mal am Strand und lässt sich die Sonne auf den Bauch scheinen.
Ein lautes ›Pling‹ kündigt eine erneute E‑Mail an.
An: Kira Tinson
Datum: 12.07.2012
Betreff: Ihre Antwort
Miss Tinson,
ich danke Ihnen für die Bestätigung, dass meine Mail angekommen ist. Sollten Sie in den nächsten Tagen noch Fragen bezüglich der Stelle haben, dürfen Sie mich gerne auf diesem Wege kontaktieren.
Sollte ich nichts mehr von Ihnen hören, wünsche ich schon mal vorab einen guten Flug.
Ryan Dearing
General Manager, Blackstone Ranch & Spa
Fragen? Ja, Fragen hätte sie da einige. Aber die Fragen, die ihr auf der Zunge brennen, kann sie ihm unglücklicherweise nicht stellen. Sie kann ja schlecht schreiben: Könnten Sie mir verraten, wie alt Sie sind? Oder noch besser: Schicken Sie mir doch einmal ein Foto von Ihnen. Oder vielleicht: Sind Sie verheiratet und haben Sie Kinder?
Kira schüttelt genervt den Kopf, hastig tippt sie im Suchfeld seinen Namen ein und drückt auf Enter. Leider führt auch das nicht zum erwünschten Erfolg. Es gibt einfach zu viele Ryan Dearings auf dieser Welt. Es macht wenig Sinn, jeden einzelnen Link zu öffnen, das würde Stunden dauern. Sie würde so nur durch einen großen Zufall an den Richtigen geraten.
»Mist. Es ist zum Haareraufen. Warum gibt es nichts über ihn?«, flucht sie.
Kira gehen die Ideen aus. Frustriert klappt sie den Laptop zu und beschließt, sich überraschen zu lassen. An und für sich kann es ihr ja auch egal sein, wie er aussieht und wie alt er ist. Sie soll schließlich für ihn arbeiten und ihn nicht heiraten. Die Stimme ist ihr jedenfalls sehr sympathisch.
Jetzt, da sich die Aufregung ein wenig gelegt hat, kommen ihr die ersten Zweifel. Hoffentlich hat sie die richtige Entscheidung getroffen. Was, wenn sie doch noch zu wenig Erfahrung hat? Wenn sie mit ihrer Aufgabe überfordert ist? Zum ersten Mal in ihrem Leben wird sie völlig auf sich alleine gestellt sein. Kira schüttelt den Kopf. Nein, darüber will sie jetzt nicht nachdenken. Jetzt ist es wichtiger, dass sie in Windeseile ihre Sachen zusammenpackt. Vierzehn Tage sind schnell vorbei, und davor gibt es noch einiges zu erledigen. Wenigstens muss sie sich nicht mehr um einen neuen Pass kümmern. Den hat sie schon beantragt, da sie eigentlich noch ein paar Tage Urlaub machen wollte. Er lag vor einer Woche in der Post.
Kira wirft einen Blick in den Kleiderschrank. Viel gibt er nicht her. Frustriert verteilt sie den gesamten Inhalt in ihrem Zimmer. Zum Glück bekommt sie für die Arbeit alles, was sie braucht. Ihr Koffer wird sowieso schon dick genug sein, auch wenn sie nur ihre Freizeitbekleidung mitnimmt. Wobei sie auch hier noch das eine oder andere Teil brauchen könnte. Sie wird also um eine Shoppingtour nicht herumkommen. Nachdenklich steht sie mitten im Zimmer, als ihr Vater anklopft. Vorsichtig streckt er den Kopf zur Tür herein.
»Mom hat mir gerade die Neuigkeit erzählt. Gratuliere Mäuschen. Ich freu mich so für dich, auch wenn du mir sehr fehlen wirst.« Er strahlt über beide Ohren.
Das liebt Kira an ihren Eltern. Sie würden ihr nie Steine in den Weg legen, egal ob sie ihre Ideen gut finden oder nicht. Sie haben sie immer ermutigt, ihre Träume zu leben, auch wenn sie sich etwas ganz anderes erhofft hatten.
»Was gibt das?« Ihr Vater runzelt die Stirn und zeigt auf die Klamotten.
»Hab mal schnell Inventur gemacht«, seufzt Kira und rollt mit den Augen.
»Und? Alles da?« Er grinst wie ein Honigkuchenpferd.
»Ja, schon. Aber ich sollte noch einkaufen gehen, bevor ich fliege.«
»Du weißt sicher, dass die Klamotten in den USA billiger sind, oder? Abgesehen davon, wenn du doch noch unbedingt hier etwas besorgen willst, ich fahre gleich in die Stadt. Du kannst gerne mitkommen.«
Er sieht seine Tochter so erwartungsvoll an, dass sie laut lachen muss. Kira schüttelt den Kopf.
»Sorry Paps, nichts gegen deinen Geschmack, aber Klamotten gehe ich lieber mit Mom kaufen.«
»Meine Tochter will nicht mit mir einkaufen gehen. Sie mag mich nicht mehr.« Ihr Vater verzieht beleidigt das Gesicht und schmollt. Dann holt er jedoch lachend seine Brieftasche hervor, zückt einen Fünfhunderteuroschein und wedelt damit vor Kiras Nase. »Aber den hier nimmst du, oder? Zur Feier des Tages.«
Dankbar fällt sie ihm um den Hals und drückt ihn ganz fest. Er erwidert ihre Umarmung und zieht sie an sich.
»Meine kleine Kira wird erwachsen. Wo ist die Zeit nur geblieben?«, flüstert er.
* * *
Kira fühlt sich vom Lärm und der Hektik am Flughafen wie erschlagen. Ihre neuen Klamotten sind zusammen mit den anderen Sachen sicher in dem großen, grauen Koffer verstaut. Als Handgepäck hat sie nur eine Tasche, in der sich außer Brieftasche und Laptop ein wenig Notbekleidung befindet. Für den Fall, dass der Koffer verloren geht, hat ihre Mutter gesagt. Gedanken verloren reicht sie der Stewardess ihr Ticket. Erst als diese zum zweiten Mal ihre Frage stellt, reagiert Kira endlich.
»Haben Sie nur dieses eine Gepäckstück?«
Sie nickt wortlos. Die nette Dame hinter dem Tresen nimmt den Koffer entgegen und befestigt ein blaues Band daran. Dann gibt sie ihr die Tickets zurück, lächelt und wünscht ihr einen guten Flug.
»Wie lange willst du bleiben? Ich hatte für meinen Urlaub mehr Gepäck als du.« Ashley legt ihren Kopf schief und runzelt verwundert die Stirn, dabei pustet sie ihre Haare aus dem Gesicht.
»Ashley, ich bekomme dort alles, was ich brauche. In den USA gibt es auch Geschäfte.« Lachend zieht Kira ihre Freundin in die Arme. »Verdammt. Du wirst mir fehlen. Wenn du Urlaub hast, musst du mich unbedingt besuchen kommen, versprich es mir.«
Ashley verdreht die Augen, dann schüttelt sie bedauernd den Kopf. »Sorry Süße, ich weiß nicht, ob ich mir das leisten kann. So ein Flug ist nicht gerade billig.«
Kira nickt traurig, sie hat natürlich recht. Jetzt, da sie kurz davor ist, alleine ins Flugzeug zu steigen, bekommt sie es langsam doch mit der Angst zu tun.
»Mensch Ashley, ich hab Schiss.«
»Das wird schon klappen, du wirst sehen und wenn nicht, dann kommst du wieder heim.« Ashley boxt ihrer Freundin aufmunternd gegen die Schulter.
»Wir müssen unbedingt über Skype oder Facebook in Kontakt bleiben. Ich brauche mit Sicherheit jemanden zum Reden«, seufzt Kira.
»Klar Süße, das machen wir. Wenn du angekommen bist, melde dich. Ich will wissen, wie deine neuen Arbeitskollegen und dein neuer Chef sind.«
Es wird langsam Zeit für Kira an Board zu gehen, der Flug wird gerade aufgerufen. Wieder überkommt sie der Drang, nach Hause zu laufen und sich unter der Bettdecke zu verkriechen. Plötzlich ist sie sich nicht mehr so sicher, ob sie wirklich fliegen will.
»Du solltest gehen, Kira.« Die Augen ihrer Mom schimmern verdächtig.
»Fang jetzt bloß nicht an zu heulen, Stefanie. Sonst bleibt unsere Kira womöglich noch da.« Auch Kiras Vater blinzelt verräterisch mit den Wimpern.
»Wenn ihr jetzt beide heult, bleib ich tatsächlich hier. Ich werde euch so vermissen«.
Als Kira ihre Eltern umarmt, haben alle drei Tränen in den Augen. Sanft schiebt sie ihr Vater von sich.
»Los jetzt, sonst fliegen sie ohne dich«, drängt Kiras kleiner Bruder Jason. Wobei klein in dem Fall jünger heißt, da er mit seinen siebzehn Jahren mittlerweile schon einen Kopf größer ist als sie.
Da stehen sie: Mom, Paps, Jason und Ashley, die vier wichtigsten Menschen in Kiras Leben. Die Menschen, auf die sie sich immer verlassen kann, die immer für sie da sind. Und nun muss Kira mindestens ein Jahr lang ohne sie zurechtkommen.
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Kapitel 4
Fast dreizehn Stunden Flug liegen hinter Kira. Ihre Klamotten kleben an ihrem Körper, und sie ist total erschöpft. Nervös wirft sie einen Blick auf die Anzeigetafel. Es ist kurz nach 18 Uhr, somit ist das Flugzeug pünktlich in Orlando gelandet. Suchend wandert ihr Blick durch die Ankunftshalle des Flughafens.
»Nach wem oder was suche ich eigentlich?«, fragt sie sich im Stillen.
Während des Zwischenstopps in Charlotte hatte sie noch kurz Zeit die E‑Mails abzurufen. Ryan Dearing hat ihr mitgeteilt, dass er dafür sorgen werde, dass sie am Flughafen abgeholt wird. Wer das jedoch sein wird, hat er mit keinem Wort erwähnt. Da entdeckt Kira eine schlanke, sportlich gekleidete Frau mit kurzen, schwarzen Haaren, in denen eine übergroße Sonnenbrille steckt. Sie hat ein iPad in der Hand, auf dem ›Welcome Kira‹ steht. Erleichtert schnappt sie ihren Koffer, der – bei ihrem sonstigen Pech – wie durch ein Wunder nicht verloren gegangen ist, und geht auf die Frau zu.
»Hallo, ich glaube Sie warten auf mich«, sagt Kira schüchtern, »ich bin Kira Tinson.«
»Hi, Miss Tinson, willkommen in Florida. Ist das alles, was Sie dabei haben? Ich dachte Sie wollen länger bei uns bleiben.« Freundlich nickt sie und zeigt belustigt auf Kiras Koffer.
»Ich möchte mich hier noch mit ein paar Sachen eindecken«, antwortet Kira und zuckt mit den Schultern. Die Frage entlockt ihr ein unsicheres Grinsen.
»Na dann. Wollen wir?« Die Frau zeigt Richtung Ausgang und nimmt Kira den Koffer aus der Hand. Ohne auf eine Antwort zu warten, läuft sie los. Aus irgendeinem Grund kommt sie Kira sofort vertraut vor. So, als würden sie sich schon jahrelang kennen. »Ich bin übrigens Mila Dearing, Ryans große Schwester«, stellt sich die Schwarzhaarige vor.
Kira stutzt. Hat sie gerade große Schwester gesagt? Groß ist sie ja, aber meint sie das auch so? Oder sagt sie das, weil er jünger ist? Kira schätzt Mila auf Anfang Dreißig. Sie macht ein verdutztes Gesicht, und Mila schüttelt sich vor Lachen. Fragend zieht Kira die Augenbraue hoch.
»Ich glaube, Sie und mein Bruder werden gut miteinander auskommen. Anscheinend redet ihr beide nicht viel.«
Kira hat keine Ahnung, worauf sie hinaus will, und blickt Mila ratlos an.
»Ihrer Reaktion nach gehe ich davon aus, dass mein Bruder nichts über sich erzählt hat«, stellt Mila fest.
»Nein, hat er nicht.« Komischerweise fühlt Kira sich ertappt und wird rot.
»Das ist wieder einmal so typisch für mein Brüderchen«, prustet sie erneut los. »Sorry, aber dein Gesicht ist zu köstlich, bitte sei nicht sauer.«
»Bin ich nicht.«
»Gut! Ich finde es übrigens sehr mutig, einfach ins kalte Wasser zu springen«, erklärt Mila beeindruckt.
»Ich verstehe nicht. Was meinen Sie?«
»Na, dass du, ohne irgendetwas über deinen Arbeitgeber zu wissen, so weit weg von Zuhause eine Stelle antrittst. Was, wenn mein Bruder ein fieser, alter Sack wäre, der dir bei jeder Gelegenheit an die Wäsche will?«
Kira bleibt vor Schreck die Spucke weg, und Mila kichert schon wieder.
»Ich hoffe, du hast jetzt keine Angst bekommen, keine Sorge, so einer ist Ryan nicht. Und bitte sag Mila zu mir.«
»Wie ist er dann?«, fragt Kira neugierig.
»Nee, so läuft das nicht. Wenn du es bis jetzt ausgehalten hast, kannst du auch noch ein Stündchen länger warten, bis du ihn persönlich triffst. Dann kannst du dir selbst ein Bild von ihm machen.«
Verschmitzt zwinkert sie Kira zu und grinst frech. Die Frauen treten aus dem klimatisierten Flughafengebäude nach draußen. Schlagartig ist die Luft heiß und feucht. Kiras klamme Klamotten scheinen ein Bündnis mit ihrer Haut einzugehen. Bei jedem Schritt kleben sie noch fester an ihr. Mila merkt sofort, dass sich ihre neue Angestellte unwohl fühlt.
»Wir haben es nicht weit«, erklärt sie, »dort drüben steht mein Wagen.« Sie zeigt auf einen dunkelblauen Chevrolet Tahoe.
»Warum muss ich unbedingt zur heißesten Zeit einreisen?«, denkt Kira und steigt erleichtert in den Wagen, in dem es noch erstaunlich kühl ist. Mila hat wohl noch nicht lange auf sie gewartet.
»Warum sollte ich eigentlich nach Orlando fliegen? Das Hotel befindet sich doch in der Nähe von Fort Myers.« Diese Frage brennt Kira schon lange auf den Lippen. Die Antwort, die sie darauf erhält, fällt anders aus, als erwartet.
»Mein Bruder glaubt, du würdest sicher gerne einmal Disney World besuchen. Sieh es als Willkommensgeschenk an. Außerdem war er mir auch noch etwas schuldig.« Spitzbübisch legt sie den Kopf zur Seite. »Er baut nämlich ganz gerne mal Bockmist. Damit darfst du dich jetzt herumschlagen.«
»Muss ich Angst davor haben?«, fragt Kira unsicher.
Mila lacht und schüttelt den Kopf. »Nein, so schlimm ist es nicht.« Sie macht eine kurze Pause und verdreht dabei die Augen. »Es ist noch viel schlimmer.«
Kira mag sie, ihre fröhliche, unbekümmerte Art ist irgendwie ansteckend.
»Na dann bin ich ja beruhigt. Wann fahren wir nach Fort Myers?«
»Morgen Abend. Wir werden eine Nacht hier bleiben, uns einen Tag lang von Donald und Mickey küssen lassen und abends dann heimfahren.«
Walt Disney World. Was für eine schöne Überraschung. Ashley wird ungeheuer neidisch sein, wenn sie erfährt, wohin ihre beste Freundin morgen gehen darf. Kiras Gesicht nimmt einen verträumten Ausdruck an.
»Du scheinst dich darüber zu freuen«, stellt Mila zufrieden fest. »Ryan treffen wir übrigens gleich im Hotel, er musste noch etwas erledigen.« Als Kira nichts darauf antwortet, schüttelt Mila den Kopf. »Sag mal, redest du immer so viel?«
»Sorry, aber ich bin ein wenig müde. Außerdem möchte ich aus diesen Sachen raus.« Kira zupft an ihrem T‑Shirt und verzieht angewidert das Gesicht. »Für eine Dusche würde ich im Moment jemanden ermorden.«
»In etwa dreißig Minuten sind wir da, dann kannst du duschen. Ryan hat uns Zimmer in einem Disneyhotel gebucht.«
Zufrieden lehnt sich Kira zurück und schließt kurz die Augen. Milas Art ist sehr angenehm. Kira fühlt sich wohl in ihrer Nähe. Aber das ist bei ihr immer so. Entweder sie kann jemanden von Anfang an gut leiden, oder nicht. Dazwischen gibt es nichts. Erschöpft nickt sie ein und bekommt von der restlichen Fahrt nichts mehr mit. Mila schüttelt sie sanft aus dem Schlaf, als sie das Hotel erreicht haben. Wie ferngesteuert stapft Kira hinter ihr her. Zum Glück ist es bis zu den Zimmern nicht weit. Da Mila schon am Vormittag eingecheckt hat, müssen sie sich auch nicht am überfüllten Empfang die Beine in den Bauch stehen.
Das Hotel sieht lustig aus, überall stehen überdimensionale Disneyfiguren herum. Die einzelnen Zimmer kann man nicht wie sonst üblich über einen Flur erreichen, sondern sie führen alle direkt nach draußen. Über eine Treppe und eine Art Balkon gelangen die Frauen endlich zu ihrem Zimmer im ersten Stock.
»Ich hoffe, du hast nichts dagegen, dass wir uns ein Zimmer teilen. Sonst muss ich bei Ryan schlafen, das wird ihm nicht gefallen.«
Mila macht große Augen, als hätte sie Angst davor, sich mit ihrem Bruder einen Raum zu teilen. Als sie Kiras Lachen hört, atmet sie erleichtert aus.
»Solange ich nicht bei ihm schlafen muss«, entgegnet Kira vorwitzig. »Ich steh nicht so auf grapschende, alte, dickbäuchige Männer.«
Mila kichert und steckt nun schon zum fünften Mal die Schlüsselkarte ins Schloss. Endlich schaltet das Licht auf Grün und die Tür lässt sich öffnen.
»Da sind ja zwei Betten im Zimmer. Ich nehme das Erste«, freut sich Kira und lässt sich bäuchlings auf die Schlafstätte fallen. Am liebsten würde sie einfach liegen bleiben und schlafen und schlafen und schlafen.
»Miss Tinson! Ich möchte Sie darauf hinweisen, dass Sie dringend eine Dusche nötig haben.« Snobistisch baut sich Mila vor Kira auf und rümpft die Nase.
»Ich weiß, ich weiß. Ich geh ja schon.«
Wieder kommt es Kira vor, als ob sie Mila schon seit Jahren kennt. Sie erinnert sie ein wenig an Ashley, vielleicht liegt es daran. Ächzend erhebt sich Kira und stemmt ihren Koffer aufs Bett. Der blöde Reißverschluss klemmt schon wieder. Hektisch versucht sie, ihn zu öffnen. Mila sieht ihr eine Weile belustigt zu, dann gibt sie Kira einen Klaps auf die Finger.
»Immer mit der Ruhe, oder willst du das Ding kaputtmachen?« Vorsichtig ruckelt sie kurz, um anschließend ohne Schwierigkeiten den Reißverschluss aufzuziehen. »Na bitte, ist doch gar nicht so schwer gewesen.« Ihre Augen funkeln schelmisch und sie strahlt über das ganze Gesicht. »Und jetzt, los! Duschen!«
»Ja, Mami«, rutscht es Kira heraus. Erschrocken hält sie sich eine Hand vor den Mund. Zu ihrer Erleichterung steigt Mila voll darauf ein.
»Mach schnell Kind, bevor du mir vor Müdigkeit umfällst!«
Übertrieben ernst ruht ihr Blick auf Kira, doch ihre Mundwinkel zucken verräterisch. Kira nickt artig und verschwindet im Bad. Das Wasser ist herrlich erfrischend und weckt ihre müden Lebensgeister. Genussvoll schließt sie die Augen und hält ihr Gesicht in den Strahl. Eine Zeit lang bleibt sie einfach nur stehen und genießt die angenehme Kühle auf ihrer Haut. Ihre verspannten Muskeln lösen sich allmählich, während der Wasserstrahl sanft ihren Rücken massiert. Nach einer Weile beginnt sie, sich den Staub und Schmutz der Reise abzuwaschen. Die Seife riecht erstaunlich lecker; fruchtig, nach Pfirsich. Da klopft es unerwartet an der Tür.
»Kira, ich lauf schnell vor ins Restaurant und besorg uns etwas zu essen.« Milas Stimme dringt gedämpft ins Badezimmer. Kira nickt, bis ihr einfällt, dass Mila das ja gar nicht sehen kann.
»Das hört sich toll an, ich sterbe vor Hunger!«, ruft sie schnell. Sie dreht die Dusche ab und hört gerade noch, wie die Zimmertür ins Schloss fällt. Zufrieden, sauber und mit frischen Klamotten setzt sie sich aufs Bett. Nach kurzer Überlegung schaltet sie den Fernseher an und lässt sich, ohne wirklich hinzuhören, mit den neuesten Informationen über Disney World berieseln. Immer wieder fallen ihr die Augen zu, bis sie sogar kurz einnickt. Der lange Flug fordert langsam aber sicher seinen Tribut. Um sich wach zu halten, beschließt sie, an die frische Luft zu gehen. Es hat zwar bereits zu dämmern begonnen, doch draußen ist es immer noch sehr warm und schwül. Ungeachtet dessen atmet Kira tief ein. Sie stützt sich am Geländer ab und ohne etwas Bestimmtes zu suchen, wandert ihr Blick umher. In der Hotelanlage sind kaum Leute unterwegs, die meisten besuchen noch die angrenzenden Parks, die bis tief in die Nacht geöffnet haben. Kira beschließt, sich ein wenig die Beine zu vertreten, und läuft hüpfend die Treppe hinunter.
Ziellos wandert sie umher, bis ein Streifenhörnchen ihre Aufmerksamkeit erregt. Es hopst mit kurzen Sprüngen vor ihr über den Weg. Dann stoppt es, stopft sich etwas Popcorn – das wohl ein paar Kinder verloren haben – in die Backen und verschwindet im Gebüsch. Amüsiert über das kleine Tier geht sie grinsend weiter in Richtung Pool, der bis auf eine Person vollkommen leer ist. Der Mann schwimmt eine Bahn nach der anderen. Gemächlich aber kraftvoll schiebt er sich mit jedem Schlag seiner Arme nach vorne. Das dunkle Haar schimmert im Licht der Poolbeleuchtung. Fasziniert beobachtet Kira jede seiner Bewegungen, wie sich die breiten Schultern im gleichmäßigen Rhythmus nacheinander aus dem Wasser heben. Plötzlich ändert er den Schwimmstil und reißt beide Arme zugleich nach vorne. Wie ein Delfin verschwindet er fast vollständig im Wasser, um kurz darauf wieder aufzutauchen. Kira schlendert am Pool entlang, ohne ihn aus den Augen zu lassen. In atemberaubender Geschwindigkeit legt er die letzten Meter der Bahn zurück, wendet unter Wasser und stößt sich am Beckenrand ab, um eine weitere zu absolvieren. Da er dabei von ihr weg schwimmt, hat sie freien Blick auf den breiten, muskulösen Rücken, den eine Tätowierung ziert. Ein edler, wilder Hengst scheint bei jeder Bewegung der Muskeln über den Rücken zu galoppieren. Er wendet noch einmal und schwimmt zurück. Dann hat er offenbar sein Tagespensum erfüllt und stoppt genau vor Kira am Beckenrand, die stehen geblieben ist und ihn anstarrt.
Mist. Wie peinlich. Ihr Herz klopft laut. Er schaut ihr direkt in die Augen und ein wissendes Lächeln huscht über sein Gesicht. Die schwarzen Haare umrahmen ein atemberaubend schönes aber markantes Gesicht, das jede Plakatwand zieren könnte. Von dem Anblick erschlagen hält Kira die Luft an. Atemlos betrachtet sie die verführerischen Lippen, die schmale, gerade Nase und die stahlblauen Augen, die sie sofort in den Bann ziehen.
Wieder zuckt ein leichtes Grinsen um seinen Mund, dann nickt er Kira zum Gruß zu. Ertappt und mit hochrotem Kopf nickt sie verstört zurück und setzt schleunigst ihren Weg fort. Während sie sich vom Pool entfernt, wandert ihr Blick immer wieder verstohlen zu ihm zurück. Er stützt sich mit beiden Händen am Beckenrand ab. Mit einem kraftvollen Ruck stemmt er sich aus dem Wasser. Beeindruckt von dem durchtrainierten Körper fällt Kira das Atmen schwer. Mit einer Hand nimmt er ein Handtuch und rubbelt sich durch die Haare. Da bemerkt sie, dass er an einem Finger einen silbernen Ring trägt. Der wahnsinnig gut aussehende Typ ist verheiratet.
»Welche Glückliche ihn wohl ihr eigen nennen darf?« Bei dem Gedanken muss Kira innerlich lachen. »Das kann mir doch völlig egal sein, den sehe ich sowieso nie wieder.«
Sie dreht sich um und entscheidet sich zurück ins Zimmer zu gehen, um dort auf Mila zu warten. Doch als sie noch einmal in seine Richtung schielt, steht Mila aus heiterem Himmel bei ihm am Becken und unterhält sich angeregt mit ihm. Kira hat sie nicht kommen sehen. Ihr schwant Böses, als ihr dämmert, dass Mila den Wahnsinnstypen kennt. Er schüttelt gerade den Kopf und legt das Handtuch lässig über die Schulter. Nahezu gleichzeitig drehen sich die beiden zu ihr um. Mila winkt Kira zu sich, sie hat zwei große Tüten im Arm. Als Kira näherkommt, riecht es verführerisch. Ihr knurrt sofort der Magen und sie merkt, wie hungrig sie ist.
»Wie ich feststellen musste, hat sich mein Bruder immer noch nicht bei dir vorgestellt.«
Mila schaut den Mann an ihrer Seite strafend an und boxt ihm leicht in die Seite. Er zieht einen Mundwinkel nach oben, sonst bleiben seine Gesichtszüge unnatürlich und maskenhaft. Dadurch wirkt er schrecklich arrogant.
»Hi, ich bin Ryan Dearing.« Artig wie ein kleiner Junge streckt er Kira die noch immer etwas feuchte Hand entgegen. »Ich hoffe, Sie hatten einen angenehmen Flug?«
»Mister Dearing«, zögernd drückt sie seine Hand. »Ja, hatte ich, danke.«
Kira ist komplett durch den Wind, ihr Herz schlägt ihr bis zum Hals. Sein Anblick macht sie nervös, vor allem, da er nur mit einer Badehose bekleidet vor ihr steht.
»Das ist also mein neuer Boss. Na super. Genau der Typ ›Mann‹, auf den ich total abfahre. Und mit diesem Adonis soll ich nun arbeiten. Tag für Tag … Na, das kann ja lustig werden«, stellt sie besorgt fest.
Verlegen blickt Kira zu Boden, da sie keine Ahnung hat, wohin sie sonst schauen soll, ohne völlig aus der Bahn zu geraten. Doch wie von selbst wandern ihre Augen zu ihm zurück.
»Freut mich zu hören. Mila meinte, Sie hätten noch nichts gegessen«, hört sie ihn sagen.
Kira löst den Blick von seiner glatten, unbehaarten Brust und schaut ihm direkt ins Gesicht. Böser Fehler. Sie fühlt sich, als wäre sie gerade geohrfeigt worden. In den stahlblauen Augen liegt eine tiefe Traurigkeit verborgen, die sie auf schreckliche Art und Weise berührt. Ein leichter Schauer rieselt ihren Rücken hinab. Er bemerkt es und zieht für einen kurzen Moment einen Mundwinkel nach oben, was ihm wieder diesen leicht arroganten Touch verleiht.
»Verdammt, er bringt meine Gefühle ganz schön aus dem Gleichgewicht. Kann er sich nicht endlich etwas anziehen?«
Mühsam versucht Kira, ihre Fassung zu bewahren, doch Mila rettet sie zum Glück aus der Situation.
»Ryan, wenn du auch was essen willst, zieh dir was über! So setzt du dich jedenfalls nicht zu uns.« Sie wirft ihm ein T‑Shirt an den Kopf. Ein Grinsen kommt über seine Lippen, während er sich langsam anzieht.
»Komm Kira, wir essen schon einmal«, entscheidet Mila und geht zu einem der Tische in der Nähe. »Die hatten leider nur Burger. Alles andere war schon weg. Zum Trinken gibt es Cola. Ich hoffe, das ist OK?«
Prüfend mustert sie Kira, und dabei sieht sie ihrem Bruder verdammt ähnlich. Sie hat dieselben Augen wie er, nur ihre strahlen fröhlich. Da Kira glaubt, dass Mila das Gefühl hat, ihr etwas Besseres anbieten zu müssen, erklärt sie: »Burger sind klasse. Ich liebe Burger.« Sie zwinkert ihrer neuen Freundin zu, worauf diese erleichtert ausatmet.
»Ich mag Burger auch. Bekomm ich einen? Habe mich auch ganz artig angezogen.« Ryan macht einen Schmollmund und legt den Kopf schief.
Mila lacht sich krumm und auch Kira entschlüpft ein leises Kichern. Er sieht aus wie ein frecher, kleiner Junge. Die Daumen hat er in den Bund der Hose gesteckt. Die halblangen, zerzausten Haare fallen ihm strähnig in das makellose Gesicht.
»Hier, du Riesenbaby, lass es dir schmecken.«
Mila wirft ihm einen Burger zu, den er geschickt auffängt. Mit einem lauten Seufzer setzt er sich und fängt an zu essen, dabei betrachtet er Kira nachdenklich.
»Sie redet wirklich nicht viel«, bemerkt er zu seiner Schwester gewandt, die gleichgültig mit den Schultern zuckt.
»Hallo, ich bin auch noch hier«, ärgert sich Kira und rutscht unruhig auf ihrem Stuhl hin und her. Sie kann es nicht leiden, so übergangen zu werden.
»Hast du sie schon gefragt, in welchen Park sie morgen gerne gehen will?«
»Nee, habe ich nicht, hatte noch keine Zeit dazu«, antwortet seine Schwester.
»Dann mache ich das jetzt.« Er dreht sich zu Kira um. »Also? Wo wollen Sie morgen hin? Wir haben hier vier verschiedene Themen- und zwei Wasserparks. Die Entscheidung, in welchen wir gehen, liegt bei Ihnen, da wir schon alles kennen.«
Erwartungsvoll sehen beide die neue Mitarbeiterin an.
»Ich würde gern ins ›Animal Kingdom‹ gehen«, schlägt Kira spontan vor, dabei starrt sie krampfhaft in Milas Richtung. Diese nickt und scheint mit der Wahl äußerst zufrieden zu sein.
»Gebongt, wir gehen in den Disneyzoo«, sagt sie liebevoll und nimmt einen großen Schluck von ihrer Cola. »Fährst du eigentlich gerne Achterbahn? Ich hasse es.«
»Weiß nicht. Bin noch nie mit einer gefahren.« Darüber hat Kira sich noch keine Gedanken gemacht, sie war bis jetzt in keinem Freizeitpark.
»Dann musst du es ausprobieren und morgen unbedingt mit Ryan fahren. Bitte. Dann brauche ich mich nicht zu quälen.« Mila verzieht ihr Gesicht, und man kann ihr regelrecht ansehen, dass Achterbahnfahren nicht zu ihren Lieblingsbeschäftigungen gehört.
»Mila, lass Miss Tinson in Ruhe, sie muss nicht, wenn sie nicht will!«
Ryan behandelt Kira wie ein kleines Kind, und sie runzelt verärgert ihre Stirn. Hallo? Was soll das? Sie kann gut für sich selbst sprechen. »Ich will aber«, platzt sie heraus, was ein wenig bockig klingt.
Erstaunt sieht Ryan seine Assistentin an und zieht dabei eine Augenbraue nach oben. Nach einer Weile meint er ernst zu seiner Schwester: »Mila, ich glaube, du steckst deine kleine, neue Freundin jetzt ins Bett. Sie wird quengelig.«
»Ryan! Benimm dich«, schimpft sie verlegen, dann sieht sie Kira entschuldigend an: »Ich gebe es ja nicht gerne zu, aber du siehst wirklich todmüde aus.«
Wie aufs Stichwort muss Kira kräftig gähnen.
»Ja, ich glaube, jetzt schlafen zu gehen, wäre gar keine schlechte Idee. Ich bin total K.O.«
Immerhin ist sie auch schon über zwanzig Stunden auf den Beinen. Während die drei zu den Zimmern laufen, studiert Ryan den Parkplan.
»Der Park macht um neun Uhr auf, wir treffen uns morgen am besten um halb acht. Dann haben wir genug Zeit, um zu frühstücken«, bestimmt er.
»Gebongt.« Mila kämpft schon wieder mit der Zimmertür.
»Schlafen Sie gut, Kira. Ich darf Sie doch Kira nennen, oder?«, fragt er zögerlich.
»Gerne, Mister Dearing. Ich wünsche Ihnen auch eine gute Nacht.«
Schnell schlüpft Kira verlegen an Mila vorbei ins Zimmer. Ryans Schwester folgt ihr belustigt und schließt die Tür hinter sich.
»Gerne, Mister Dearing. Natürlich Mister Dearing … «, äfft sie Kira nach. »Du kannst meinen Bruder ruhig Ryan nennen.«
»Das geht doch nicht, immerhin ist er mein Arbeitgeber.«
»Ach was. Wir haben so was noch nie so ernst genommen.«
Mila auf persönlicher Ebene zu begegnen ist für Kira in Ordnung, doch bei Ryan hat sie das Gefühl, auf Distanz bleiben zu müssen. Er bringt sie so schon genug durcheinander, deshalb schüttelt sie vehement den Kopf.
»Ich warte lieber, bis er mir selbst den Vorschlag macht.«
»Wie du meinst. Ich mag nicht darüber streiten.«
»Ich auch nicht, ich bin zu müde.«
Schon hat Kira sich die Schuhe ausgezogen und verschwindet ins Bad. Kurze Zeit später kommt sie umgezogen und mit frisch geputzten Zähnen zurück. Mila liegt auf dem Bett und sieht fern.
»Kannst du schlafen, wenn die Kiste an ist? Sonst geh ich noch eine Weile zu Ryan rüber.«
»Normalerweise nicht, aber ich bin so hundemüde, dass ich sicherlich sofort weg bin.«
Mit müden Augen sieht Kira Mila an und lässt sich gähnend aufs Bett fallen.
»Darf ich dir wegen meines Bruders noch was sagen?«
»Na klar«, gespannt wartet Kira darauf, was Ryans Schwester auf dem Herzen hat.
»Du musst dich bei Ryan darauf gefasst machen, dass er ganz schön launisch sein kann. Seit unsere Eltern gestorben sind, ist es nicht einfach, mit ihm klarzukommen.« Sie macht eine kurze Pause und schaut ihre Zimmergenossin ernst an. »Wenn mein Brüderchen sich einmal etwas in seinen Dickschädel gesetzt hat, dann ist meist alles zu spät.«
»Und warum sagst du mir das?«
»Ich will dich nur warnen. Obwohl er manchmal ziemlich ausflippen kann, meint er es meist nicht so.«
»Du meinst, ich soll mich darauf einstellen, dass er extrem impulsiv sein kann? Was mache ich dann? Kopf einziehen und über mich ergehen lassen?«
»Ja, am besten gehst du ihm in solchen Momenten aus dem Weg. Er merkt recht schnell, dass er wieder ein wenig zu weit gegangen ist.«
Seufzend betrachtet Kira Ryans Schwester. Obwohl sie es nicht zugeben will, hat sie die Warnung vor ihrem Arbeitgeber doch ein wenig eingeschüchtert.
»Er ist oft sehr distanziert, oder? Du bist da ganz anders.«
»Anders? Anders bedeutet ›Gut‹, hoffe ich?« Übermütig streckt ihr Mila die Zunge heraus.
»Genau das meine ich, du bist so offen, so fröhlich. Du reißt einen einfach mit«, grinst Kira.
»Andere nervt das.« Ihre Stimme klingt auf einmal traurig.
»Meinst du Ryan damit?« Kira ist schlagartig munter und stützt sich interessiert auf den Arm.
»Ja, er kann es nicht leiden. Ich wäre so schrecklich fröhlich, sagt er immer.«
»Ich kann daran nichts Schreckliches finden. Ist doch gut, wenn du fröhlich bist. Was stört ihn daran?« Kira schüttelt verständnislos den Kopf.
»Ryan hatte es in den letzten Jahren nicht leicht. Ich glaube, er erträgt es nicht, weil es ihm selbst immer noch mies geht. Aber er kann es gut verstecken«, sagt Mila nachdenklich.
»Er hat verdammt traurige Augen«, rutscht es Kira heraus.
»Das ist dir aufgefallen? Die anderen sehen immer nur sein hübsches Gesicht und seinen tollen Körper.« Erstaunt streicht sich Mila ihre Haare aus der Stirn.
»Hm, und ich dachte, dein Bruder sei klein, fett und will mir an die Wäsche«, zieht Kira Mila erneut auf.
»Pass auf, dass er das nicht wirklich will, so wie er dich angesehen hat«, lacht sie übermütig.
»Warum trägt er diesen Ring? Er ist doch nicht verheiratet, oder?«, überspielt Kira ihre Antwort.
»Der gehörte unserem Vater. Den trägt er seit dem Tod unserer Eltern andauernd.« Zwinkernd fügt sie hinzu: »Nein, er ist nicht verheiratet. Und er hat auch keine Freundin, falls dich das interessieren sollte.«
»Sollte es? Ich möchte meinen Job eigentlich behalten. Erzählst du mir, was mit euren Eltern passiert ist?«
»Sie sind vor zehn Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Wie es genau passiert ist, weiß ich nicht, das weiß nur Ryan. Er war damals dabei. Aber bitte frag ihn nicht, er hat es selbst mir noch nicht erzählt und womöglich wird er es auch nie tun. Jetzt ist aber Schluss mit reden, jetzt wird geschlafen.«
Man kann es Mila ansehen, dass es sie schmerzt, über dieses Thema zu sprechen. Sie macht das Licht aus und stellt den Fernseher leise. Kira gähnt noch einmal, dann fallen ihr auch schon die Augen zu.
Ihre Gedanken sind bei Ryan. Sie stellt es sich schrecklich vor, sehen zu müssen, wie die eigenen Eltern sterben. Und er ist damals noch so verdammt jung gewesen, ein Teenager. Ob seine Augen je wieder so strahlen werden, wie die seiner Schwester? Sie wünscht es ihm.
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Kapitel 5
Die Luft in dem kleinen Hotelzimmer ist drückend heiß, da Mila die Klimaanlage über Nacht ausgemacht hat. Schon eine ganze Weile wälzt sich Kira von links nach rechts. Obwohl es erst kurz nach sechs Uhr morgens ist, ist sie hellwach. Da sie sowieso nicht mehr schlafen kann, steigt sie vorsichtig aus dem Bett. Mila befindet sich noch im Reich der Träume und rührt sich nicht. Kira schlüpft schnell in eine kurze Hose, lässt das Trägershirt, in dem sie geschlafen hat, an und verlässt leise das Zimmer.
Auch wenn die Sonne sich erst mit einem rötlichen Schimmer am Horizont ankündigt, empfängt sie schon schwüle Hitze. Erstaunlicherweise macht ihr das heute im Gegensatz zu gestern kaum etwas aus. Lächelnd beobachtet sie zwei um ein paar Pommes zankende Vögel. Sonst ist es überall noch ruhig und friedlich.
»Guten Morgen. Haben Sie gut geschlafen?«, ertönt es auf einmal leise hinter ihr.
Da Kira nicht damit gerechnet hat, um diese Uhrzeit auf jemanden zu treffen, zuckt sie zusammen und dreht sich in Richtung der Stimme um. Ryan Dearing steht in grau karierter, kurzer Hose und mit freiem Oberkörper vor ihr. Das dunkle Haar ist feucht, einzelne Tropfen fallen auf seine Schultern und rinnen den Körper hinab bis zum Bund seiner Shorts.
»War er etwa schon wieder schwimmen?«, überlegt Kira und mustert ihn mit schräg gelegtem Kopf, die Lippen leicht geöffnet.
»Entschuldigen Sie, ich wollte Sie nicht erschrecken.«
Er klingt aufrichtig, fast ein wenig schüchtern. Obwohl, seine Körperhaltung eindeutig etwas anderes sagt. Stolz und selbstbewusst steht er da und strahlt eine Stärke aus, die Kira das Gefühl gibt, klein und schwach zu sein.
»Guten Morgen, Mister Dearing. Sie haben mich nicht erschreckt, ich habe nur nicht mit Ihnen gerechnet«, sagt sie tapfer. »Und ja, ich habe fantastisch geschlafen.«
»Kira. Würden Sie bitte mit dem Mister Dearing aufhören? Nennen Sie mich doch einfach Ryan.«
»Nat … türlich … gerne … Ryan«, stottert Kira.
Wie zum Teufel soll sie mit diesem Mann zusammenarbeiten, wenn ihr Herz schon bei seinem bloßen Anblick droht zu zerspringen?
»Meine Schwester schläft bestimmt noch?« Abschätzend zieht er eine Augenbraue nach oben.
»Ja, das tut sie.«
Muss er eigentlich immer so wenig anhaben? Da Kira in Versuchung gerät, ihre Hände auf seine nackte Brust zu legen, dreht sie sich um. Sie umfasst das Geländer und hofft, dass er nicht bemerkt, wie sehr sie dabei zittert.
»Und warum sind Sie schon wach?«, hört sie ihn fragen.
»Wahrscheinlich die Zeitumstellung.« Ihre Antwort ist knapp, verlegen schielt sie wieder in seine Richtung. »Und warum schlafen Sie nicht mehr?«
Als Kira diese Frage stellt, verdunkeln sich Ryans Augen und er zieht herablassend den Mundwinkel nach oben. Sofort wirkt er wieder unnahbar und arrogant.
»Ich schlafe nicht viel und morgens gehe ich immer gerne schwimmen«, sagt er schroff, dann wechselt er sofort das Thema. »Wollen Sie mit mir einen Kaffee trinken gehen? Das Restaurant hat ab sechs Uhr auf.«
»Eigentlich wollte ich mir meinen ersten Sonnenaufgang hier in Florida ansehen. Aber Kaffee hört sich auch gut an«, meint Kira achselzuckend.
»Wir können runter zum Pool gehen, uns auf die Liegen setzen und dort warten«, schlägt er vor. »Bis die Sonne aufgeht, dauert es noch circa eine halbe Stunde. Ich hol uns vorher einen Kaffee.«
Erst jetzt fällt Kira ein, dass sie bestimmt schrecklich aussieht. Ihre Haare sind unfrisiert und ihr Oberteil ist verknittert. Hecktisch versucht sie, mit den Fingern wenigstens die Frisur in Ordnung zu bringen. Ryan beobachtet sie mit einem breiten Grinsen im Gesicht.
»Ich muss mir auch noch etwas anziehen. Wie lange brauchen Sie?«, fragt er amüsiert.
»Ich bin in fünf Minuten fertig«, antwortet sie beherzt, doch am liebsten würde sie sich gerade in Luft auflösen.
»Dann treffen wir uns in fünf Minuten am Pool.« Ryan nickt zufrieden und geht in sein Zimmer.
Kaum ist er verschwunden, atmet Kira tief aus. Ryan bringt schon allein damit ihr Herz zum Rasen, dass er vor ihr steht. Selbst der Klang seiner Stimme lässt Schmetterlinge in ihrem Bauch tanzen. Sie versteht nicht, was mit ihr los ist. Klar, Ryan sieht toll aus, aber das alleine ist es nicht, warum sie so durch den Wind ist. Einerseits möchte sie sich sofort in seine Arme werfen, andererseits hat sie das Gefühl, ihn beschützen zu müssen. Was ziemlich idiotisch ist, da er wesentlich stärker ist als sie. Dass sie so fühlt, muss an den traurigen Augen und an diesem unbeschreiblich verletzten Ausdruck liegen, den man zwischendurch in ihnen entdecken kann. Auch wenn er sich stark und selbstbewusst gibt, manchmal sagen seine Augen genau das Gegenteil.
Kira schüttelt den Kopf und öffnet die Zimmertür. Es hat keinen Sinn darüber nachzudenken, sie wird heute keine Antwort darauf finden. Was sie aber mit Sicherheit sagen kann, ist, dass es besser wäre, keine Gefühle für ihn zu entwickeln. Sie hat so schon mit genug Problemen zu kämpfen, mit ihm würden sich diese mindestens verdoppeln. Sie sollte dringend für Abstand sorgen. Nur befürchtet sie, dass es leider schon zu spät ist und sie sich nicht mehr von ihm fernhalten kann. Schlimmer noch. Das Geheimnis, das in seinem Blick verborgen liegt, besitzt eine so unvorstellbare Anziehungskraft auf sie, dass sie sich gar nicht fernhalten möchte. Sie will erfahren, warum diese blauen Augen manchmal so furchtbar trübsinnig sind.
Als sie zurück ins Zimmer kommt, schläft Mila immer noch seelenruhig. Kira schnappt sich ein neues T‑Shirt und schlüpft leise ins Bad. Dort bringt sie ihre Haare in Ordnung und putzt schnell die Zähne; dann noch ein bisschen Wimperntusche und Lipgloss und schon ist sie fertig.
Wie abgemacht geht Kira zu den Liegen am Pool, von Ryan ist noch nichts zu sehen. Lediglich Mickey Mouse mit seinem blauen, spitzen Zauberhut steht da auf einem Felsen. Er hat die Hände in Richtung der bald aufgehenden Sonne hoch erhoben. Man könnte meinen, er wolle sie herbeizaubern. Ein Lächeln huscht über Kiras Gesicht, es sieht einfach zu niedlich aus. Aus den Augenwinkeln sieht sie Ryan kommen, er hat Kaffee und etwas zum Essen geholt.
»Ihr Lächeln gefällt mir«, sagt er leise mit rauer Stimme.
Augenblicklich fühlt Kira ein verräterisches Pochen zwischen den Beinen und ihre Nackenhaare sträuben sich. Sie schließt kurz die Augen und versucht das süße Gefühl zu unterdrücken, dann dreht sie sich zu ihm um. Er hat den Mundwinkel wieder leicht nach oben gezogen. Die daraus resultierende leichte Arroganz lässt ihn auf gewisse Art und Weise verdammt sexy aussehen, da sich sein Lächeln diesmal in seinen Augen widerspiegelt. Kiras Atem wird schneller und das süße Gefühl in ihrem Unterleib kehrt zurück.
»Bei Mila regen Sie sich über ihr Lächeln auf und werfen ihr vor, sie wäre zu fröhlich«, rutscht es ihr heraus. Erschrocken legt sie eine Hand auf den Mund. Natürlich hat sie mit dieser Aussage den Zauber, der die beiden kurz umgab, fortgejagt. Zum Glück nimmt er es ihr nicht übel, nur seine Augen werden schlagartig traurig.
»Hat sie sich darüber beklagt?«, fragt er bedrückt, dann zeigt er auf die Liegen. »Wollen wir uns setzten?«
Kira kommt der Aufforderung nach und nimmt Platz, dabei schüttelt sie den Kopf. »Nicht wirklich, sie sagte nur, sie hätte das Gefühl, es würde Sie nerven.«
»Das tut es nicht.« Da Kira ihn abschätzend mustert, redet er weiter. »Ich freue mich für sie, dass sie so unbeschwert sein kann. Es ist nur manchmal etwas«, er sucht nach dem richtigen Wort, »anstrengend.«
Verlegen kratzt er sich am Nacken, seine Stimme klingt wehmütig. Für einen kurzen Moment zeigt sich wieder dieser unerwartet verletzliche Ausdruck in seinem Gesicht. Was ihn für Kira nur noch begehrenswerter macht.
»Und Sie? Sie können nicht unbeschwert sein?«
Ryan versteift sich sofort. Seine Gesichtszüge ändern sich von einem Augenblick auf den anderen. Seine Miene ist verschlossen, die Augen tiefschwarz und sturmumwölkt. Innerhalb von Sekunden wird seine Körperhaltung abweisend und vor Kira steht ›Mister Unnahbar‹.
Sie runzelt die Stirn. Ein beklemmendes Gefühl, etwas Falsches gesagt zu haben, beschleicht sie. Was ist los mit ihm? Warum hat sie das Gefühl, er würde gerade am liebsten vor ihr flüchten?
»Das wollen Sie nicht wissen«, murmelt er leise, mehr für sich selbst bestimmt. Dann versucht er abzulenken und zeigt auf die mitgebrachten Sachen. Nichts ist mehr von der Unsicherheit zu merken, die ihn gerade eben noch gefangen hielt. Sein Blick ist abschätzend und unpersönlich.
»Ich habe uns Kaffee besorgt. Und Waffeln. Ich hoffe, Sie mögen Waffeln.«
»Hm, kann ich erst sagen, wenn ich sie probiert habe. Die sehen nicht aus wie die Waffeln, die ich kenne. Aber sie riechen gut.« Kira schnuppert interessiert.
»Dann probieren Sie. Ich hätte Ihnen gerne etwas Besseres gebracht, aber die Auswahl hier ist leider nicht berauschend.«
Da Kira ihm forschend ins Gesicht schaut, dreht er nervös an seinem Ring. Noch immer wirkt er angespannt, doch seine Augen haben wieder ihre normale Farbe angenommen.
»Das ist schon in Ordnung. Ich esse morgens sowieso nicht viel.« Kira nimmt einen Schluck Kaffee und verzieht sofort ihr Gesicht.
»Heiß?«, fragt er besorgt.
»Nein, scheußlich. Ich hoffe, der Kaffee schmeckt hier nicht immer so.«
Ein Lächeln umspielt seine Lippen, während er den Kopf schüttelt und sich langsam entspannt. Lässig streckt er die Füße aus und greift nach dem zweiten Kaffeebecher.
»Sie sollten öfter lächeln«, meint Kira und bereut es im gleichen Moment, denn schlagartig ist die Finsternis in seine Augen zurückgekehrt. Schnell versucht sie, die Situation zu retten.
»Mila sagte, ich solle erst am Montag anfangen zu arbeiten. Hat das einen bestimmten Grund?«
Er atmet kräftig aus und fängt sich sofort wieder.
»Ja, dann haben Sie noch ein paar Tage, um sich in Ruhe in Ihrer 2‑Zimmerwohnung einzurichten.«
»Oh. Danke. Ich wäre aber auch mit einem einfachen Zimmer zufrieden gewesen«, bemerkt Kira erstaunt.
»Glauben Sie mir, es ist besser so, sonst fällt Ihnen an den freien Tagen die Decke auf den Kopf.«
»Wie viele Leute arbeiten im Hotel?«, möchte sie wissen.
»Lassen Sie uns bitte nicht über das Hotel reden. Ich habe heute einen meiner seltenen freien Tage. Da will ich nicht an die Arbeit denken. Erzählen Sie lieber etwas von Ihnen.«
Abschätzend mustert er seine Assistentin und kaut auf der Unterlippe. Kira bekommt eine Gänsehaut, so sinnlich empfindet sie diese Geste. Sofort erhöht sich ihr Herzschlag und ihr Mund wird trocken.
»Da gibt es nicht viel zu erzählen.« Kira steckt sich ein Stück Waffel in den Mund. Sie schmeckt köstlich; süß und nach Speck. »Bisher war mein Leben langweilig, eintönig, ziemlich normal. Ich ging in den Kindergarten, auf die Schule, dann zur Uni. Nichts Besonders.«
»Und warum haben Sie sich dann entschieden, so weit von zu Hause wegzugehen?«
Er hebt fragend eine Augenbraue und wartet gespannt auf Kiras Antwort. Sie zuckt mit den Schultern, und obwohl es ihr etwas peinlich ist, beschließt sie bei der Wahrheit zu bleiben.
»Ich wollte etwas von der Welt sehen. Und außerdem lief es privat gerade nicht gut.«
Sie nimmt noch einen Schluck Kaffee, und es schüttelt sie wieder. Das Gebräu ist fast nicht zu trinken. Da er sie immer noch interessiert mustert, erklärt Kira ihre Gründe genauer.
»Ich fand heraus, dass ich von meinem Ex-Freund betrogen wurde. Danach wollte ich einfach nur noch so weit weg wie möglich.«
»Sie sind also vor einem Mann zu uns geflüchtet? Und ich dachte, Sie wären an der Stelle interessiert.« Seine Augen blitzen schelmisch.
Erschrocken sieht Kira Ryan an, doch sie merkt schnell, dass er sie nur aufzieht.
»Die Stelle? Die war nur nebensächlich«, lacht sie. »Nein. Quatsch. Ich habe mich beworben, bevor der andere Mist passierte. Dass Sie mir den Job angeboten haben, war nur ein glücklicher Zufall.«
Beide lachen unbefangen. Kira freut sich, so ungezwungen mit ihm reden zu können. Wenn er in dieser Stimmung ist, sieht er viel jünger aus, als er wirklich ist.
»Warum gerade unser Hotel?«, will Ryan wissen.
»Mister Dearing, Sie haben eben gesagt, Sie wollen nicht über die Arbeit reden.«
Kira blickt ihn strafend an und er hebt entschuldigend beide Hände. »Erwischt. Dann frage ich anders. Warum Florida?«
»Ich liebe Florida. Mein Vater ist in Tampa aufgewachsen. Ich selbst war bisher nur ein paar Mal zum Urlaub hier.«
»Dann haben Sie Verwandte in Florida?«, fragt er erstaunt.
»Nein, leider nicht. Meine Großeltern leben nicht mehr und mein Vater hat keine Geschwister.« Kira schüttelt bedauernd den Kopf. Sie macht eine kleine Pause und betrachtet ihn nachdenklich. Ryan beißt sich schon wieder auf die Unterlippe und macht sie damit fast wahnsinnig. Plötzlich hat sie den Wunsch, diese Lippen zu küssen, ihn zu schmecken und ihre Finger in seinem schwarzen Haar zu vergraben. Um sich abzulenken, nimmt sie noch einen Schluck Kaffee.
»Und Sie? Erzählen Sie mir auch etwas von Ihnen?«
»Was wollen Sie wissen?«
»Was immer Sie bereit sind, mir zu erzählen«, flüstert Kira, da ihr mittlerweile klar ist, dass er nicht gewillt ist, viel von sich preiszugeben.
Ryan hebt den Kopf. Kira fasziniert ihn. Sie scheint ein natürliches Gespür dafür zu haben, wann sie bei ihm eine Grenze erreicht hat. Als ob sie seine unsichtbare Barriere ganz klar sehen kann. Auch ihm klopft das Herz bis zum Hals, wenn er in ihrer Nähe ist. Schon am Pool besaß sie eine unwahrscheinliche Macht über ihn. Als er zum ersten Mal in ihre Augen sah, war er vollkommen verloren gewesen. Sie hat ihn mit ihrem wachen, tiefsinnigen Blick sofort eingefangen. Nur mit Mühe konnte er die Fassade aufrechterhalten, als sie direkt zu seiner Seele vordrang. Auch jetzt beschleicht ihn die gleiche Angst wie beim ersten Mal. Er befürchtet, dass diese Augen einen direkten Zugang zu seinem angeschlagenen Inneren haben. Sie blicken geradewegs in den dunkelsten Teil seines Herzens.
»Ich rede nicht gerne über mich«, sagt er leise.
»Dann werde ich warten, bis Sie mir freiwillig etwas erzählen wollen.«
Ryan betrachtet sie schweigend. Kira sieht ihn verständnisvoll an, ihre Augen leuchten. Er spürt, dass diese Frau etwas an sich hat, das seine mühsam errichteten Mauern einstürzen lassen könnte. Deshalb muss er für Abstand sorgen, muss sie daran hindern, hinter den Schutzwall zu kommen, um sein Geheimnis zu hüten. Auch wenn sich sein Körper danach verzehrt, von ihr Besitz zu ergreifen. Sein Unterbewusstsein stampft auf wie ein trotziger Junge. Er will nicht auf Distanz bleiben, er muss sie näher kennenlernen. Er will ihre Finger überall auf sich spüren, sie überall berühren. Sehen, wie sie sich unter seinen Händen windet. Sich vor Lust kaum noch halten kann. Dieses aufkommende unbekannte Gefühl macht ihm noch mehr Angst. Noch nie hat er den Wunsch verspürt, jemandem so nahe zu kommen, schon gar nicht, sich von ihm auf diese Weise berühren zu lassen. Und obwohl er sich davor fürchtet, bleibt er, rennt nicht – wie schon so oft – davon.
»Die Sonne sollte jetzt bald aufgehen.«
»Stimmt, ich glaube, Mickey hat es gleich geschafft«, schmunzelt Kira.
Ratlos sieht er sie an. Sie lacht leise und zeigt zu dem kleinen Zauberlehrling. Langsam erscheint der gelbe Ball zwischen seinen Händen und es sieht so aus, als ob die Maus die Sonne hochhebt. Ryan versteht, was Kira meint und sagt lachend: »Kira, Sie hat das Disneyfieber gepackt.«
»Ich muss zugeben, davon bin schon lange befallen«, grinst sie. »Zu Hause habe ich eine umfangreiche Disney-DVD-Sammlung.«
»Dann habe ich ja zufällig richtig gelegen mit meiner Überraschung.«
»Und Sie? Mögen Sie die Filme auch?«
»Ja«, Ryan nickt und sein Blick wird wehmütig. Er verschränkt die Hände hinter dem Kopf und sieht der aufgehenden Sonne zu, die sich in seinen feuchten Augen spiegelt. Kira wagt es nicht ihn anzusprechen, da sie spürt, dass er im Moment Abstand braucht. Schweigend blicken sie gemeinsam in den Himmel. Mit einem Mal dreht Ryan sich zu Kira um.
»Ich sollte meiner Schwester auch Frühstück bringen. Ich hole schnell etwas und Sie essen in Ruhe ihre Waffel auf.«
Er steht auf, nimmt den Kaffeebecher und schlendert davon. Nachdem er ein paar Meter Abstand zwischen sich und Kira gebracht hat, atmet er tief durch und wischt sich verstohlen über die Augen. Er hat gerade an seine Eltern gedacht, wie sie abends oft mit ihm und seiner Schwester auf der Couch saßen und sich Filme ansahen.
Disneyfilme.
| Kapitel 1 | Kapitel 2 | Kapitel 3 | Kapitel 4 | Kapitel 5 | Kapitel 6 |
Kapitel 6
›Animal Kingdom, have a wild time!‹
Mit diesen Worten werden die Besucher vor den Toren des Themenparks begrüßt. Kira huscht ein Grinsen über das Gesicht. Na, das klingt ja vielversprechend.
»Ich hoffe, die Zeit wird nicht zu wild.« Mila scheint denselben Gedanken zu haben.
Es ist erst kurz vor neun Uhr, doch vor dem Eingang zum Park ist schon eine Menge los. Die meisten Besucher drängen sich vor den Toren und warten ungeduldig darauf, dass diese endlich geöffnet werden.
»Ich geh mal schnell Karten kaufen, wir treffen uns vor dem Eingang.«
Ohne auf eine Antwort zu warten, macht sich Ryan auch schon auf den Weg zur Kasse und lässt seine Schwester und Kira einfach stehen. Die beiden Frauen gehen im Schlenderschritt weiter, wobei Mila Kira interessiert mustert. Ihr scheint etwas auf dem Herzen zu liegen und Kira kann sich auch denken, was. Als sie heute Morgen mit Ryan zurückkam, war Mila wach und stand am Balkon. Sie hat mit Sicherheit gesehen, wie Ryan mit ihr zusammen am Pool saß.
»Da war nichts, Mila. Wir haben uns nur unterhalten«, versucht Kira zu erklären.
»Ich weiß nicht, was du meinst. Außerdem würde es mich nichts angehen, wenn da was wäre«, wiegelt Mila ab.
»Mila, dein Bruder ist mein Boss. Es würde nur Probleme verursachen.«
Ja, schön gesagt. Aber erstens: Kira zieht Probleme an wie das Licht die Motten. Und zweitens: Wen belügt sie hier eigentlich? Sobald er in ihrer Nähe ist, muss sie die ganze Zeit kämpfen, um ihm nicht um den Hals zu fallen. Sie kann kaum die Finger bei sich lassen.
»Kira, ich habe nichts gegen dich, im Gegenteil, ich mag dich richtig gern«, Mila macht eine Pause. »Ich bitte dich nur: Spiel nicht mit ihm. Das hat er nicht verdient und er könnte es nicht verkraften.«
»Ich spiele mit niemandem. Ich weiß aus eigener Erfahrung gut genug, wie scheiße das ist.«
Todernst ruht Kiras Blick auf Ryans Schwester. Ihr ist anzusehen, dass sie sich Sorgen um ihren Bruder macht, doch die sind unbegründet. Mit seinen Gefühlen zu spielen wäre das Letzte, das Kira einfallen würde.
»Ich hoffe, dass du das ernst meinst. Du hast keine Ahnung … Mist. Er kommt.« Mila sieht Kira bittend an, ihrem Bruder gegenüber nichts zu erwähnen.
»So Mädels, es kann losgehen!«, ruft er gut gelaunt. »Ist bei euch alles in Ordnung?«
Die beiden nicken fast zeitgleich. Ryan gibt ihnen die Karten und wundert sich ein wenig, dass die zwei so abrupt das Gespräch beendet haben. Er geht nachdenklich an dem Kassenhäuschen, über dem ein großer, grüner Elefantenkopf thront, vorbei zum Eingang, der mittlerweile geöffnet wurde. Seine Schwester und Kira folgen ihm.
»Wollen wir gleich die Safari machen? Dann müssten wir uns links halten.«
Mila ist aufgedreht wie ein kleines Kind, das zum ersten Mal in den Zoo geht. Sie versucht, das Gespräch mit Kira zu überspielen. Diese beschließt ebenfalls, sich nichts anmerken zu lassen und nickt begeistert. Safari hört sich toll an.
Der Park ist in einzelne Bereiche unterteilt, und die sogenannten ›Kilimanjaro Safaris‹ befinden sich natürlich in Afrika. Um dorthin zu gelangen, müssen die drei fast den kompletten Park durchqueren. Immer wieder gibt es Möglichkeiten, Tiere zu beobachten, nur Mila lässt den anderen keine Zeit dazu.
»Rast sie jetzt den ganzen Tag so durch den Park? Ich kipp gleich um.«
Kira ist völlig außer Atem und ihr ist leicht schwindelig. Die Hitze und die hohe Luftfeuchtigkeit machen ihr nun doch zu schaffen.
»Mila. Lauf langsamer! Kira kommt ja gar nicht mehr mit.«
Ryan ist stehen geblieben und sieht seine Assistentin besorgt an.
»Ich glaube, ich brauche noch ein paar Tage, um mich an das Klima zu gewöhnen«, entschuldigt sie sich.
»Tut mir leid, Kira, daran habe ich gar nicht gedacht«, sagt Mila geknickt. »Ich habe eine Idee, ich laufe schon mal vor und schaue, wie viel dort los ist.«
Mila hat noch nicht mal ausgeredet, da ist sie schon in der Menschenmenge verschwunden.
»Geht›s wieder? Oder sollen wir uns setzen?«
Ryan mustert Kira intensiv und sofort klopft ihr Herz bis zum Hals. Sie ist fassungslos, wie einfach er sie erregt. Welche Macht er über sie besitzt. Ein Blick von ihm und sie ist willenlos. Kira schluckt, da ihr Mund mit einem Mal trocken ist.
»Soll ich Ihnen etwas zu trinken holen?«
Kira nickt dankbar. Offenkundig kann er Gedanken lesen oder einfach nur gut beobachten. Er führt sie zu einer Bank in der Nähe.
»Warten Sie hier, ich bin gleich zurück.«
Froh über die kurze Pause setzt sich Kira erleichtert und beobachtet, wie Ryan in einem Restaurant verschwindet. Sie findet es rührend, dass er sich Sorgen um sie macht. Wenig später ist er auch schon mit einer Coke XL in der Hand wieder da.
»Ich wusste nicht, wie viel Durst Sie haben.«
Er reicht Kira den Becher. Nachdem sie getrunken hat, fühlt sie sich gleich viel besser.
»Und Sie? Wollen Sie auch etwas?«, sie hält ihm die Coke hin. Er schüttelt ablehnend den Kopf.
»Sind Sie sicher? Ich schaffe den Becher sowieso nicht alleine.«
Zögernd nimmt er die Cola, die ihm Kira entgegen streckt.
»Ich bin nicht giftig«, sagt sie lachend.
Er grinst zurück, dann nimmt er einen großen Schluck.
»Danke. Ich habe gar nicht gemerkt, wie durstig ich bin. Können wir weiter?« Er streckt ihr seine Hand entgegen.
Kira lässt sich von ihm hochziehen, und gemeinsam setzen sie gemächlich ihren Weg fort. Ryan ist aufmerksam, höflich aber sehr distanziert. Auf dem Weg macht er Kira immer wieder auf verschiedene Tiere aufmerksam, die sie selbst nie im Leben entdeckt hätte. Doch sie ist an ihm weitaus mehr interessiert als an den Tieren, die er ihr zeigt. Nach einer Weile stehen sie endlich vor einer großen, dunkelbraunen Holzplatte mit der Aufschrift Afrika. Erleichtert atmet Kira aus, jetzt kann es nicht mehr weit sein.
»Geht es Ihnen wirklich gut? Nicht, dass Sie mir hier zusammenklappen«, sorgt sich Ryan.
»Mit mir ist alles OK. Nur werde ich Mila sicher nicht mehr hinterher rennen«, erklärt Kira lachend, um ihn zu beruhigen.
Er hält mit einer Hand sanft ihren Unterarm fest. Obwohl er sie kaum berührt, brennt Kiras Haut wie Feuer. Ernst schaut er ihr in die Augen.
»Ich möchte wissen, wenn es nicht mehr geht. OK?«
Kira schluckt. Sein Blick fixiert sie noch immer. Ihr Atem wird schneller, Zentimeter für Zentimeter kommt er näher. Wenn er sie jetzt küsst, hat sie nichts dagegen zu setzen.
»Da seid ihr ja endlich!« Laut rufend kommt ihnen Mila entgegen.
Erleichterung macht sich in Kira breit, die jedoch schon einen Moment später von großer Enttäuschung abgelöst wird. Ryan lässt Kiras Arm sofort los, macht einen Schritt zurück und zeigt auf die Holzplatte.
»Wir haben uns gerade die Schnitzereien hier angesehen.«
»Lasst doch das blöde Holzding. Beeilt euch lieber. Bei der Safari ist noch gar nichts los«, fordert Mila sie ungeduldig auf. »Wo wart ihr so lange? Hat Ryan dir die Stachelschweine gezeigt? Die find ich so niedlich.«
Sie ist ganz und gar in ihrem Element. Wenn Mila aufgeregt ist, plappert sie noch mehr als Ashley, was eigentlich fast unmöglich ist.
»Schwesterchen, hol mal tief Luft, ich kann mich nicht um zwei ohnmächtige Damen kümmern«, ermahnt Ryan, dann zeigt er auf einen überdachten Weg. »Da vorne ist der Eingang, Kira.«
Schon bald sitzen sie in einem der Safaribusse. Im Schritttempo schaukelt das hellbraune Gefährt mit den dunklen Streifen den Weg entlang. Sie konnten einen Platz in der ersten Reihe ergattern. Ryan hat in der Mitte platzgenommen und die Arme lässig hinter seinen Begleiterinnen auf die Rückenlehne gelegt. Gemächlich tuckern sie an Pelikanen, Krokodilen und bizarren Gebilden vorbei, die, wie sich herausstellt, nachgebaute Termitenhügel darstellen. Die ersten Steppentiere, die sie zu Gesicht bekommen, sind rotbraune Rinder mit sehr langen, schneeweißen Hörnern.
»Na toll. Kühe«, sagt Mila trocken.
»Die gibt es bei uns in Österreich auch. Dafür hätte ich nicht hierher kommen müssen.« Gelangweilt verzieht Kira ihr Gesicht. Wie auf Kommando prusten sie und Mila gleichzeitig los.
»Ich muss aber zugeben, unsere haben nicht so lange Dinger auf dem Kopf.«
»Kira. Hör auf. Ich bekomme Bauchschmerzen«, gluckst Mila.
»Meine Damen, bitte etwas mehr Geduld, die richtig interessanten Tiere kommen ja noch.«
Eine Spur von Tadel schwingt in seiner Stimme mit. Abschätzend beäugt Kira ihren Chef und überlegt, ob er von dem albernen Gequatsche genervt ist. Doch Ryan sieht ganz entspannt aus und sein Blick wandert aufmerksam über die Steppenlandschaft.
»Kira, da drüben, ein Zebra!«
Er beugt sich zu ihr hinüber und zeigt mit dem Finger ins hohe Gras. Dabei rutscht seine Hand von der Lehne auf ihre Schulter. Zufall? Absicht? Kira weiß es nicht. Die Stelle, an der er sie berührt, prickelt angenehm, mit dem Daumen streicht er langsam an ihrem Nacken entlang. Er bemerkt erst, was er da macht, als Kira eine Gänsehaut bekommt, und zieht sofort die Hand weg, als hätte er sich verbrannt. Seine Augen sind weit aufgerissen. Die ganze restliche Fahrt über achtet er peinlich genau darauf, Kira nicht mehr zu berühren. Zu jeder Zeit sorgt er dafür, dass genug Abstand zwischen ihnen ist. Am liebsten würde er mit Mila den Platz tauschen. Die hat von der ganzen Sache zum Glück nichts mitbekommen und erklärt fröhlich: »Jetzt müsste der Teich mit den Flamingos kommen.«
»Mensch Mila, du sollst doch nicht alles verraten.« Ryan sieht Kira entschuldigend an.
»Ist doch nicht so schlimm, jetzt weiß ich wenigstens, nach welcher Farbe ich suchen muss.«
Der Wagen fährt um ein Gebüsch herum, sodass weitere Tiere in Sicht kommen. Nashörner.
»Komisch. Sind Flamingos nicht rosa? Und kleiner?« Frech funkelt Kira Mila an, die eiskalt kontert: »Die sind bestimmt falsch gefüttert worden, dann kann so etwas schon mal passieren.«
Die beiden Frauen kugeln sich vor Lachen.
»Wenn ich gewusst hätte, wie albern ihr heute drauf seid, hättet ihr alleine fahren können.«
Ryan schüttelt den Kopf, doch er grinst dabei. Kira dreht sich ein wenig zur Seite, um ihn besser beobachten zu können. Als er es bemerkt, fingert er nervös an seinem Ring und kaut auf der Unterlippe. Ein Lächeln huscht über Kiras Gesicht, als sie erkennt, dass sie die gleiche Wirkung auf ihn hat wie er auf sie.
»Da oben liegt eine Löwin.«
Mila reißt Kira aus ihren Gedanken. Der Bus fährt dicht an einem Felsen vorbei, die Löwin liegt über ihnen und sieht herablassend auf sie herunter. Ein Stückchen unter ihr liegt der König der Tiere. Gelangweilt, mit halb zugekniffenen Augen folgt sein Blick dem Wagen. Bitte, bitte nicht springen, denkt Kira, obwohl sie weiß, dass auch sie in einem Gehege sitzen. Unbewusst rückt sie näher an Ryan heran. Er holt tief Luft und lässt diese zischend wieder durch die Zähne entweichen. Hastig rutscht sie an ihren Platz zurück.
Zum Glück fährt das Auto wenig später zurück ins Camp. Mila hüpft hinaus, und Ryan reicht Kira die Hand, nachdem er den Wagen verlassen hat. Sie lässt sich von ihm aus dem Bus helfen, und er hält sie dabei einen kurzen Moment länger fest als nötig. Dann kneift er die Augen zusammen und holt tief Luft. Er schüttelt kaum merklich den Kopf, lässt ihre Hand los und geht zu seiner Schwester. Kira bleibt nichts anderes übrig, als hinterher zu rennen, da es Mila schon zur nächsten Attraktion zieht, die ›Pangani Forest‹ heißt.
»Ryan, ich warte bei den Flusspferden auf euch.«
Mila ist nicht mehr zu halten. Kira schüttelt den Kopf. Ashley ist ja schon anstrengend, aber Mila schlägt alles.
»Was ist denn mit der los?«
»Mila ist Biologin, sie hat sich schon immer für Flusspferde und Seekühe interessiert. Deshalb ist sie auch so heiß auf den neuen Job, dort dreht sich alles um Manatis und ihren Lebensraum«, verteidigt er seine Schwester.
Nachdenklich mustert er Kira und findet, dass sie ruhig etwas mehr zu sich nehmen sollte, so dünn, wie sie ist. »Sollen wir etwas essen gehen? Sie haben heute Morgen so wenig gefrühstückt«, schlägt er deshalb vor.
»Nein, wir können ruhig weitergehen. Sonst gibt Mila noch eine Vermisstenanzeige auf.«
Schweigend bummeln sie nebeneinander von Gehege zu Gehege, die ganze Zeit ist er aufmerksam und höflich, bleibt aber auf Abstand. Kira beobachtet ihn verstohlen. Er benimmt sich, als würde er mit einem Tiger Gassi gehen. Die beiden kommen schließlich beim Flusspferdhaus an und müssen Mila nicht lange suchen. Sie steht vor einer großen Glasscheibe und drückt sich die Nase platt. Auf der anderen Seite liegt eines der grauen Kolosse regungslos im Wasser. Hin und wieder zuckt es mit einem Ohr.
»Und hat es sich schon bewegt?«, fragt Ryan seine Schwester spöttisch.
»Wenn sie dich nicht interessieren, dann halt wenigstens die Klappe.«
Sie dreht sich verärgert um und faucht ihren Bruder mit vor Wut funkelnden Augen an. Was die Flusspferde betrifft, versteht sie keinen Spaß. Er hebt abwehrend die Hände.
»Ich habe doch nur Spaß gemacht. Werde doch nicht gleich sauer.«
Mila scheint besänftigt, denn sie dreht sich wieder um und starrt aufs Neue auf das graue Ungetüm. Kira muss Ryan leider zustimmen, diese Tiere sind wirklich nicht aufregend.
»Wie lange willst du ihm noch beim Schlafen zuschauen?«
Ryan kann es nicht lassen, ein weiteres Mal ärgert er seine Schwester und erneut wirft sie ihm einen bitterbösen Blick zu.
»Weißt du was, geht doch ohne mich weiter. Ich bleib hier. Ihr könnt mir ja über Handy Bescheid geben, wenn ihr genug habt und heimfahren wollt.«
Sie dreht sich beleidigt um, und Ryan zuckt ratlos mit den Schultern, eisig mustert er seine Schwester.
»Wenn du meinst. Wollen wir, Kira?«
Er macht auf dem Absatz kehrt und verlässt das Gebäude, ohne sich darum zu kümmern, ob Kira ihm folgt oder nicht.
»Bis später, Mila!«, ruft sie, doch von Mila kommt keine Reaktion. Kira rennt Ryan hinterher, um ihn einzuholen, doch all zu weit braucht sie gar nicht zu laufen. ›Mister Unnahbar‹ steht draußen vor der Tür und starrt Löcher in die Luft. Vorsichtig versucht sie herauszufinden, in welcher Stimmung er gegenwärtig ist. Sein Gesichtsausdruck ist finster und in den Augen stürmt es wieder. Er scheint einen inneren Kampf mit sich auszufechten. Kira wagt es kaum, ihn anzusprechen.
»Ryan? Ist alles OK?«, fragt sie zögerlich.
Behutsam berührt sie seinen Unterarm. Ryan zieht ihn sofort weg. Immer noch schweigt er und hat den Blick auf das Erdmännchengehege gerichtet. Kira stellt sich neben ihn und wartet, bis er endlich von selbst zu reden beginnt.
»Ich könnte mich ohrfeigen, ich weiß doch, wie heilig ihr die Flusspferde sind.«
»Hey, ist doch halb so wild. Sie ist bestimmt nicht mehr sauer, und wenn doch, beruhigt sie sich sicher bald wieder.«
Er atmet tief ein, schüttelt den Kopf, dann dreht er sich zu Kira um. Ihr nimmt es fast den Atem, als sie sieht, wie geknickt er ist und wie leid ihm die ganze Sache tut. Wieder überkommt Kira das Gefühl, ihn beschützen zu müssen.
»Doch. Ist sie bestimmt. Aber kommen Sie. Ich will Ihnen nicht auch noch den Tag verderben. Gehen wir weiter, um die Ecke sind die Gorillas.«
Obwohl er dagegen ankämpft, wandern seine Gedanken unaufhörlich zu seiner Schwester zurück. Tief in Gedanken versunken geht sein Blick ins Leere. Kira bezweifelt, dass er überhaupt mitbekommt, was sich im Gehege tut. Sie muss ihn auf irgendeine Weise aus dieser Grübelei herausholen. Da fällt ihr etwas ein. Verschmitzt fängt sie an zu grinsen. Sie hofft nur, dass er es nicht in den falschen Hals bekommt und sauer wird. Sie schielt zu Ryan und sagt mit übertrieben ernster Stimme: »Haben Sie gesehen? Der eine raucht Pfeife.«
Er nickt kurz. Kira muss grinsen. Dass er ihr nicht wirklich zuhören würde, war ihr von Anfang an klar. Belustigt macht sie weiter.
»Ich finde es nicht gut, dass sie ihm das erlauben.«
Jetzt wird er stutzig und runzelt die Stirn, dann fragt er erstaunt: »Was erlauben?«
Kira findet die Sache ziemlich komisch und setzt noch einen drauf. »Dass er raucht.«
»Wer raucht?« Auf seiner Stirn steht ein großes Fragezeichen. Verwirrt zieht er die Augenbrauen nach oben.
»Na, der Gorilla.«
Kira kann sich ein Kichern nicht verkneifen. Da kapiert Ryan endlich, dass sie ihn verarscht.
»Wenn ich Sie erwische …«
Langsam zieht er den Mundwinkel nach oben und macht einen Schritt auf Kira zu, die kreischend davonläuft. Nach ein paar Metern, an einem felsigen Durchgang, hat Ryan das zierliche Mädchen auch schon eingeholt. Er erwischt sie am Arm und hält sie fest. Dann drückt er sie gegen einen der Steine, legt die Hände links und rechts neben ihren Kopf und sieht ihr tief in die Augen. Deutlich spürt sie seine körperliche Kraft.
»Hexe«, knurrt er grinsend etwas außer Atem.
»Wenn Sie mir etwas tun, verwandle ich Sie in einen Frosch«, droht Kira vorwitzig.
Die Luft zwischen den beiden knistert gewaltig. Kira atmet angestrengt, was nicht nur an dem kurzen Sprint liegt. Auch Ryan atmet schwer. Jedes Mal, wenn er Luft holt, drückt sein Brustkorb gegen Kira, deren Herz wie verrückt rast.
»Also? Was wollen Sie nun machen? Jetzt, da Sie mich gefangen haben.« Kiras Stimme ist kaum zu hören.
Ryan beugt sich zu ihr herunter und drückt seine Lippen auf ihre. Sein Kuss ist hart und unbarmherzig, getränkt mit einer Leidenschaft, die Kira den Atem nimmt. Seine Zunge drängt fordernd und aggressiv ihre Lippen auseinander und erobert jeden Winkel ihres Mundes. Immer wieder stößt er in sie hinein und zieht sich gleich darauf zurück. Kira hebt die Arme, umschlingt seinen Hals und erwidert den Kuss.
Ohne jede Vorwarnung zieht er sich zurück, beißt die Zähne aufeinander und schüttelt heftig den Kopf. Dann stößt er Kira von sich. Sie taumelt zurück und prallt gegen den Felsen, an dem ihr vor lauter Schmerz die Beine wegsacken. Sein finsterer Blick trifft sie mit voller Wucht, seine Stimme grollt vor Zorn.
»Ich möchte, dass Sie die Finger von mir lassen. Lassen Sie mich in Ruhe, Kira. Sie kennen mich überhaupt nicht. Sie haben überhaupt keine Ahnung, auf wen Sie sich da einlassen. Wir werden miteinander arbeiten, mehr aber auch nicht.«
Er dreht sich um und lässt Kira ungerührt im Dreck sitzen. Seelenruhig nimmt er sein Handy und wählt Milas Nummer.
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