Leseprobe aus Schwere Zeiten
Band 0 der Blackstorm – Reihe
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Kapitel 1
Das Handy rutscht Mila aus den zitternden Fingern. Ihr Gesicht verliert an Farbe und sie sackt in sich zusammen. Sie versucht zu schreien, doch kein Wort kommt über ihre Lippen. Ihre Kehle ist trocken und sie vermag kaum zu schlucken. Auch das Atmen fällt ihr schwer. Es ist fast so, als wäre ihr gesamter Körper in eine Schockstarre gefallen. Nur am Rande nimmt sie wahr, wie Jonathan auf sie zustürzt und sie gerade noch auffangen kann, bevor sie auf dem Boden aufschlägt.
Sie kann … nein, sie will nicht begreifen, was sie soeben erfahren hat. Ihre Eltern sind tot, bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Tausende Kilometer entfernt, in einem fremden Land. Nie wieder wird sie in Moms lachendes Gesicht sehen oder Dads angenehm sonore Stimme hören. Sie wird sich nicht einmal von ihnen verabschieden können, denn ihre Leichen werden schon übermorgen in Deutschland verbrannt.
Dabei hat sie doch erst vor ein paar Stunden mit den beiden telefoniert. Mom war richtig aufgeregt gewesen, weil sie ihren ›Kleinen‹, wie sie Ryan immer noch nennt … nannte, endlich wiedersehen durfte.
Ihr Bruder war vor etwa drei Monaten mit zwei Pferden nach Europa gereist, um dort an einem Trainingscamp für talentierte Jungreiter teilzunehmen. Mehr als ein halbes Jahr hatte er dem Termin entgegengefiebert. Den Aufenthalt hatten ihm Mom und Dad zu seinem fünfzehnten Geburtstag geschenkt. Zwölf Wochen Deutschland, die gesamten Sommerferien lang. Ihre Eltern wollten Ryan nun abholen. Erst gestern Morgen waren sie deshalb über den großen Teich geflogen und jetzt sollen sie nie wieder heimkommen.
Mila hört das Blut in ihren Ohren rauschen. Sie ist einer Ohnmacht nahe und eine unbeschreibliche Übelkeit steigt in ihr auf. Nach wie vor ist sie unfähig, einen Ton hervorzubringen. Regungslos liegt sie in den Armen ihres Arbeitskollegen.
»Mila? Was ist los? Wer war das am Telefon?« Jonathans Stimme zittert. Obwohl sie sich erst seit Kurzem kennen, da Mila noch nicht lange im Manatee Rescue Resort arbeitet, verstehen sie sich gut. Jonathan ist meist bester Laune, bringt sie mit seinen Späßen zum Lachen. Mit den dunklen Haaren und den tiefgründigen Augen, in denen oft der Schalk blitzt, sieht er außerdem verdammt gut aus. Wenn Mila ehrlich ist, muss sie zugeben, dass sie ein wenig in ihn verliebt ist.
Er schüttelt sie sanft, um ihre Aufmerksamkeit zu erlangen. Allmählich gelingt es ihr, wieder zu atmen und sie erwacht aus ihrer Starre. Sie blickt in sein schreckerfülltes Gesicht. Nach wie vor geben ihre Augen die Tränen, die sie so gerne weinen würde, nicht frei. Plötzlich kann sie Jonathans Nähe nicht mehr ertragen und windet sich aus seiner Umarmung. Es überkommt sie das Gefühl, am falschen Ort zu sein. Sie muss auf der Stelle nach Fort Myers zurückkehren und sich um das Hotel ihrer Eltern kümmern. Mein Gott, wie soll das jetzt weitergehen? Sie hat doch gar keine Ahnung, wie man ein Hotel führt. Ihre Eltern hatten sie immer darin bestärkt, ihren Wunschberuf ›Biologin‹ zu ergreifen und darauf gehofft, dass Ryan in Dads Fußstapfen treten würde. Er solle einmal alles erben, aber im Moment liegt die Verantwortung bei ihr.
»Meine Eltern sind tot. Ich muss nach Hause«, eröffnet sie ihm mit tonloser Stimme.
»Was ist passiert, Mila?« Jonathan drückt sie sichtlich schockiert an seine Brust und ignoriert ihre Gegenwehr.
»Ich weiß es nicht genau. Mein Bruder hat nur gesagt, dass sie einen Autounfall hatten.« Sie beginnt zu schluchzen. Endlich brechen ihre Tränen hervor. Heiß rinnen sie unaufhaltsam über ihre Wangen, benetzen Jonathans T‑Shirt, doch das kümmert ihn wenig. Er hält sie weiterhin fest im Arm und streicht ihr beruhigend über das schwarze, kurz geschnittene Haar.
Mila fühlt Panik in sich aufkommen. Sie fragt sich, wie sie die Aufgaben, die nun auf sie zukommen werden, bewältigen soll. Ihr bislang wohlbehütetes Leben ist mit einem Mal vorbei. Erst vor einigen Wochen hat sie ihr Elternhaus verlassen. Nun steht sie mit ihren zwanzig Jahren plötzlich ganz alleine da und soll sich um ein Hotel kümmern und für ihren jüngeren Bruder sorgen.
Ihr Bruder! Ryan. Wie schrecklich muss es ihm gehen. Er war dabei, als der Unfall geschah. Er war gezwungen, den Eltern beim Sterben zuzusehen und konnte nichts dagegen tun. Wird er das Erlebte verkraften? Wie schafft man es, über so ein Ereignis überhaupt hinwegzukommen?
Mila schließt resigniert die Augen. Egal was kommt, sie wird es schaffen müssen. Ryan zuliebe wird sie ihren Traumjob an den Nagel hängen und ins Blackstone Hotel zurückkehren. Er soll unter keinen Umständen auch noch sein Zuhause verlieren. Sie wird für ihn da sein, ihm eine gute Ausbildung ermöglichen und ihre eigenen Interessen zurückstellen, bis er erwachsen ist und auf eigenen Beinen stehen kann. Familie ist das Allerwichtigste, das betonten Mom und Dad immer wieder; und sie hatten recht. Ihr Bruder und sie müssen nun zusammenhalten, dann können sie alle Hürden bewältigen, die sich ihnen in den Weg stellen werden.
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Kapitel 2
ig! Der Gaul hat sie nicht mehr alle!«, brüllt einer der Pferdepfleger, die dabei behilflich sind, den Hengst aus dem Hänger zu laden. Mila steht in sicherer Entfernung und beobachtet das Geschehen.
Der Rappe faucht und gibt ein schrilles Wiehern von sich. Seine Augen sind schreckgeweitet, sodass man das Weiße darin sehen kann. Er steigt und versucht, sich loszureißen. Doch schon ist der Tierarzt zur Stelle und jagt ihm mit einem Blasrohr eine weitere Portion Betäubungsmittel in die Flanke. Es dauert nicht lange, dann beginnt das stolze Tier benommen zu torkeln und kämpft damit, auf den Beinen zu bleiben. Erst als sich die Männer absolut sicher sind, dass er genug damit zu tun hat, sein Gleichgewicht zu halten, nähern sie sich ihm wieder.
»Bringt ihn auf die große Koppel, solange das Mittel wirkt.«
Stallmeister Tom treibt seine Leute zur Eile an, deshalb bemerkt er den Jugendlichen nicht, der still und leise vom Beifahrersitz des Transporters klettert. Mila allerdings entdeckt ihren Bruder sofort. Entsetzt stellt sie fest, wie abgekämpft er aussieht. Dunkle Augenringe zeugen davon, dass er in den letzten Tagen wohl zu wenig Schlaf bekommen hat. Er lässt die Schultern hängen und sein leerer Blick bereitet ihr zusätzlich Sorgen. Kein Bisschen von der für ihn typischen jugendlichen Fröhlichkeit ist mehr zu entdecken. Ausdruckslos und mit starrer Miene beobachtet er, wie Blackstorm weggeführt wird. Dass er sich nicht selbst um sein Pferd kümmert, lässt Mila noch mehr stutzig werden. Normalerweise flippt er schon aus, wenn sich jemand auch nur in die Nähe des Hengstes begibt. Da er jedoch einfach an Ort und Stelle stehen bleibt, geht sie zu ihm.
»Ryan! Mein Gott, was bin ich froh, dass du endlich hier bist.« Sie fällt ihm um den Hals.
Doch ihr Bruder erwidert ihre Umarmung nicht. Regungslos lässt er die Begrüßung über sich ergehen. Kein Wort des Trostes, kein Zeichen seines Schmerzes, kein Hinweis auf die Verzweiflung, die in ihm brodeln muss – nichts!
Mila schnürt es die Kehle zu. »Ryan, sag etwas!«, stammelt sie mit belegter Stimme und versucht seine Hände zu ergreifen. Er steckt sie in die Hosentaschen.
»Die Urnen stehen da drin«, erklärt er sachlich, und nickt in Richtung des Lkws.
Entsetzt blickt sie ihn an, als sie begreift, dass er die Asche der Eltern den gesamten Flug über bei sich hatte. Erneut versucht sie, ihn zu umarmen, doch er weicht zurück. Betroffen lässt Mila die Arme sinken und öffnet die Beifahrertür des Pferdetransporters. Im Fußraum steht ein kleiner Trolley, den sich Ryan extra zu dem Zweck besorgt hat. Behutsam hebt sie ihn heraus. Ihre Hände zittern und sie kämpft mit den aufsteigenden Tränen.
»Kleiner Bruder, wir werden es schaffen, auch wenn Mom und Dad nicht mehr bei uns sind.«
Anstatt ihr beizupflichten und ihr damit die nötige Zuversicht zu vermitteln, blickt er beschämt zu Boden. Mila steht hilflos neben ihm. Sie weiß nicht, wie sie mit dieser Situation umgehen soll. Ryan schließt sie aus. Mit der Gleichgültigkeit, die er dabei zur Schau trägt, kommt sie nur schwer zurecht, da sie nun befürchtet, neben ihren Eltern auch ihn verloren zu haben.
»Komm! Du bist bestimmt müde, lass uns in die Wohnung gehen«, sagt sie tapfer und geht den schmalen Weg in Richtung der Hotelanlage entlang. Hierbei zieht sie den Trolley vorsichtig hinter sich her. Ryan wirft einen letzten Blick zurück zu den Stallungen, anschließend folgt er seiner Schwester.
Erleichtert atmet Mila auf. Vielleicht braucht er einfach nur ein wenig Schlaf und ist dann besser drauf. Sie laufen um den Pool herum zum Hintereingang des Hotels. Immer wieder betrachtet sie heimlich ihren Bruder, sucht nach einer Regung in seiner Miene, doch es scheint, als hätte er eine Maske aufgezogen.
Als sie die Lobby betreten, spürt Mila die neugierigen Blicke der Angestellten auf ihnen ruhen. Natürlich wagt es niemand, sie anzusprechen. Auf direktem Weg schiebt sie Ryan weiter zum Fahrstuhl, um in die elterliche Wohnung im obersten Stock zu fahren. Auch im Lift spricht er kein Wort. Er zeigt auch sonst keine Regung. Einzig und allein seine Finger spielen nervös mit einem Silberring an seiner Hand.
»Ist das Dads Ring?«, fragt sie betont leise.
Ryan blickt sie an, als hätte sie in einer fremden Sprache mit ihm gesprochen, deshalb wiederholt Mila die Frage.
»Ja, der Bestatter hat gemeint, sie dürfen keinen Schmuck verbrennen. Willst du ihn haben? Mom hatte ihren nicht dabei.«
»Nein, behalte ihn ruhig. Dad hätte bestimmt gewollt, dass du ihn trägst.«
Sie greift nach seiner Hand, doch er zieht sie sofort zurück und stürmt aus dem Fahrstuhl, da sie soeben den obersten Stock erreicht haben. Mila folgt ihm geknickt. Sie öffnet die Wohnungstür und bittet ihren Bruder vorauszugehen. Ryan betritt die Wohnung und kann plötzlich nicht mehr atmen. Auch Mila beschleicht abends oft ein beklemmendes Gefühl, wenn sie in die Räume zurückkehrt, in denen sie jahrelang glücklich mit ihrer Familie lebte. Der unerfüllbare Wunsch, dass Mom jeden Moment um die Ecke kommt und sie mit offenen Armen willkommen heißt, schnürt ihr die Brust zu. Ihrem Bruder ergeht es jedoch weitaus schlimmer. Verzweifelt wankt er zurück, dann macht er auf dem Absatz kehrt und stürzt aus der Wohnung.
»Ich … ich kann da nicht rein«, stammelt er und lässt sich an der Wand entlang niedersinken. Mila geht neben ihm in die Hocke und will ihre Hand beschwichtigend auf seine Schulter legen, doch Ryan schlägt sie weg. Der Blick, den er ihr zuwirft, veranlasst sie, auf Abstand zu gehen.
»Soll ich ein Hotelzimmer für dich herrichten lassen? Oder möchtest du es in ein paar Minuten einen weiteren Versuch wagen?«, fragt sie und erhebt sich dabei.
Ryan bleibt, ohne zu antworten, einfach auf dem Boden sitzen. Mit leerem Blick fixiert er die gegenüberliegende Wand und ist nicht ansprechbar. Mila ist hin- und hergerissen. Am liebsten würde sie ihren Bruder an sich reißen und ihn nie mehr loslassen. Aber er lässt ja nicht einmal den kleinsten Körperkontakt zu.
»Ryan?«
Da er nicht auf ihre Frage reagiert, geht Mila erneut vor ihm in die Hocke, um mit ihm auf Augenhöhe zu sein. Sie stupst ihn leicht an.
Ruckartig dreht er den Kopf in ihre Richtung. »Was?«, knurrt er barsch.
»Soll ich dir ein Zimmer herrichten lassen?«
Statt ihr zu antworten, starrt er nachdenklich an ihr vorbei. Dann zieht er plötzlich sein Handy aus der Hosentasche und betrachtet traurig das Foto eines rothaarigen Mädchens, bevor er es löscht. Anschließend öffnet er die Kontaktliste und beginnt damit, einen nach dem anderen zu entfernen.
»Ryan? Was machst du da?« Besorgt greift sie nach dem Mobiltelefon und will es ihm abnehmen, doch er steckt es schnell in die Hosentasche zurück und springt auf. Mila taumelt ein paar Schritte rückwärts und setzt sich dabei fast auf den Hosenboden. »Warum löschst du all die Nummern?«
»Ich … ich … ich will nicht andauernd an Deutschland erinnert werden!«
»Aber deshalb musst du doch nicht mit allen Freunden brechen, die du dort gefunden hast. Immer wenn wir miteinander telefoniert haben, hast du von diesem Olaf erzählt und wie gut ihr euch versteht.«
»Was soll das bringen? So eine Freundschaft bleibt doch eh nicht bestehen. Und überhaupt: Ich brauche keine Freunde!« Er klingt beinahe hysterisch, weshalb Mila entscheidet, das Thema ruhen zu lassen.
»Willst du nun ein Zimmer oder versuchen wir es noch einmal?«, fragt sie ihn stattdessen.
»Wird schon gehen«, meint Ryan leise und betritt erneut die Wohnung, die eigentlich sein Zuhause ist, in dem er bislang sehr glücklich war. Mila beobachtet ihn mit Argusaugen, aber diesmal bleibt die Panikattacke zum Glück aus.
»Vielleicht geht es dir besser, wenn du dich ausgeruht hast? Oder möchtest du mit mir über den Unfall reden?«, erkundigt sie sich hoffnungsvoll.
Ryan beginnt, wie ein eingesperrtes Tier hin- und herzulaufen. Mila entdeckt, dass er wieder mit dem Fingerring spielt. Plötzlich bleibt er stehen und erklärt: »Du hast recht, ich sollte mich ein wenig hinlegen.«
Mila beschleicht das Gefühl, dass er das nur sagt, um ihr zu entfliehen. Obwohl sie gerne mehr über den Tod der Eltern erfahren würde, geht sie darauf ein.
»Na gut. Ruh dich aus. Ich werde dafür sorgen, dass dich bis morgen niemand stört.«
»Danke«, murmelt er, weil er spürt, dass sie es von ihm erwartet. Dann nimmt er den Koffer und wuchtet ihn auf den kleinen Tisch am Fenster. Er hat nicht vor, ihn auszupacken, sondern fischt lediglich ein frisches T‑Shirt heraus und begibt sich ins Bad.
Mila blickt ihrem Bruder traurig nach. Dass ihm der Verlust der Eltern nahegeht, damit hat sie selbstverständlich gerechnet. Aber sie hat einen zu Tode betrübten jungen Mann erwartet, der dringend ihre Stütze braucht. Er hingegen schiebt sie von sich und schließt sie aus seinen Gefühlen aus. Mila befürchtet, dass er sogar sich selbst aus seinem Herz verbannt hat. Wenn Ryan nicht trauert, wird er nie über ihren Tod hinwegkommen. Sie wiederum hat fast zwei Tage hindurch geweint und nun geht es ihr bedeutend besser. Natürlich schmerzt es noch immer, daran zu denken. Allein das Gefühl der Ausweglosigkeit ist schwächer geworden.
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Kapitel 3
»Ryan, beeil dich! Der Schulbus ist gleich da!« Mila klopft hektisch an die Badezimmertür. Die letzten Wochen sind wie im Flug vergangen. Seit ein paar Tagen quält er sich jeden Morgen aus dem Bett, um zur Schule zu gehen. Sein Wunsch, einfach tot umzufallen, erfüllte sich leider nicht. Ryan hebt den Kopf und betrachtet sich im Spiegel. Unter seinen Augen befinden sich dunkle Ringe. Er sieht abgekämpft aus. Die Tabletten, die ihn bislang schlafen ließen, sind aufgebraucht, weshalb er andauernd übernächtigt ist. Nach wie vor kann er keine einzige Träne über den Tod seiner Eltern vergießen. Von der Beerdigung hat er kaum etwas mitbekommen, da er sich mit dem Inhalt einer Minibar zugedröhnt hatte. Milas anschließendes Donnerwetter war vom Feinsten gewesen.
»Ryan!« Abermals klopft sie an die Tür. »Willst du schon wieder zu spät kommen?«
Highschool, pah, darauf verzichtet er gerne. Doch leider erwartet seine Schwester, wie auch der Staat Florida, von ihm, dass er dort hingeht. Er mochte die Schule noch nie. Da er weder besonders klug noch überdurchschnittlich sportlich ist, geht er in der Masse der normalen Schüler unter. Darüber hinaus pflegte er bislang keine Freundschaften, da durch den Reitsport nur wenig Zeit für Freunde übrig blieb. Die meisten Jungs sind ohnehin der Meinung, Pferde seien etwas für Mädchen.
»RYAN!«
Mist, nun ist Mila sauer. Ryan öffnet die Tür und blickt in das vorwurfsvolle Gesicht seiner Schwester.
»Mann, Mann, Mann, willst du von der Schule fliegen, bevor sie richtig angefangen hat? Jetzt muss ich dich fahren, dabei habe ich genug andere Dinge zu tun.«
»Ist doch egal, ob ich zu spät komme. Ist überhaupt alles egal«, murmelt er und drängt sich an ihr vorbei.
»Jetzt reiß dich endlich zusammen! Das bist du unseren Eltern schuldig. Mom und Dad wollten immer, dass du einmal aufs College gehst und das wirst du gefälligst auch tun!«
Die Worte seiner Schwester prallen an ihm ab, wie Wasser an einem Lotusblatt. Ryan schnappt sich seine Tasche und schlüpft in die Sneakers, ohne sie zuzubinden. »Können wir?«, will er patzig wissen.
Mila nickt und schluckt ihre Antwort herunter, da sie genau weiß, dass sie nicht an seine Vernunft appellieren kann. Seit er aus Europa zurück ist, erkennt sie ihn kaum wieder. Er ist in sich gekehrt und lässt niemanden an sich heran, reagiert unangemessen und gibt ständig Widerworte. Erst hatte sie ihn in Ruhe gelassen und gehofft, dass er nach einiger Zeit von selbst auf sie zukommen wird. Doch nichts dergleichen geschah. Seit ein paar Tagen ist es sogar noch schlimmer geworden. Sobald sie auch nur das Wort an ihn richtet, explodiert er.
»Soll ich dich heute Nachmittag abholen?«, erkundigt sie sich, als Ryan vor den Toren der Highschool aus dem Chevrolet Tahoe springt.
»Ich fahre mit dem Bus!« Mit Schwung knallt er die Autotür zu. Mila zuckt unweigerlich zusammen. Kopfschüttelnd blickt sie ihm nach. Natürlich bemerkt sie, dass ihn Nacht für Nacht Albträume quälen und er immer wieder aufschreckt. Ihr Bruder ist längst nicht über den Tod der Eltern hinweg. Seine Trauer hat noch nicht einmal begonnen. Dass er in der Wohnung von weiteren Panikattacken verschont bleibt, wertet Mila als sicheres Zeichen, dass er sich auf dem Weg der Besserung befindet.
Ryan verschwindet aus ihrem Blickfeld und sie fährt mit einem mulmigen Gefühl nach Hause. Ein Gefühl, das sich später bestätigen soll, denn gegen Mittag klingelt bei ihr das Telefon. Das Sekretariat der Highschool ist am Apparat und bittet sie, ihren Bruder umgehend abzuholen.
Als sie an der Schule ankommt, steht Ryan schon vor dem Tor und wartet. Er hat Blut auf dem T‑Shirt und seine Nase ist geschwollen.
Mila steigt aus dem Auto.
»Autsch! Wer hat dich denn in die Mangel genommen?«, erkundigt sie sich besorgt und will sich die Verletzung genauer ansehen, doch er dreht den Kopf zur Seite.
»Lass gut sein, es ist nichts weiter!«, faucht er und klettert in den Tahoe.
Mila holt tief Luft und ermahnt sich zur Gelassenheit. Sie umrundet das Fahrzeug und steigt ebenfalls ein.
»Erzählst du mir, was los war?«, fragt sie mit herausforderndem Blick.
»Nein!« Ryan verschränkt die Arme und starrt aus dem Seitenfenster.
»Auch gut, dann frag ich morgen die Direktorin.« Mila startet den Wagen und fährt los.
»Er konnte einfach nicht die Klappe halten. Da hat er eben eine geknallt bekommen«, grummelt Ryan.
»Wer?«
»Irgendwer. Ist doch nicht wichtig. Ich hab’s geklärt und gut ist.«
»Gar nichts ist gut, du kannst dich doch nicht prügeln, nur weil dir jemand quer kommt.« Mila schüttelt fassungslos den Kopf. »Um was ging es denn?«
»Um nichts.«
Ryan dreht sich von Mila weg und blickt demonstrativ wieder zum Fenster hinaus. Obwohl Mila ihrem Bruder liebend gerne die Leviten lesen würde, sorgt sie sich mehr um seine Nase als um seine Erziehung. Deshalb fährt sie auch nicht auf direktem Weg nach Hause, sondern lenkt den Wagen in Richtung Innenstadt.
Als Ryan an der dritten Kreuzung auffällt, dass Mila keineswegs zurück zum Hotel will, rutscht er nervös auf dem Ledersitz hin und her.
»Wohin bringst du mich?«, fragt er beunruhigt.
»Zum Arzt. Der soll sich deine Nase ansehen, wenn du mich schon nicht ranlässt.«
Mila riskiert einen Seitenblick auf ihren Bruder, und bevor er ihr eine patzige Antwort geben kann, sagt sie: »Außerdem verschreibt er dir vielleicht etwas, damit du besser schlafen kannst.«
Sie richtet ihren Blick wieder auf die Straße und gibt ihm so zu verstehen, dass sie in diesem Fall keine Widerrede dulden wird. Ryan würde gerne auf den Arztbesuch verzichten, da ihm der Schmerz in seiner Nase höchst willkommen ist. Zum ersten Mal seit Wochen spürt er überhaupt wieder etwas. Das Gefühl, das seinen Körper durchströmte, als die Faust in seinem Gesicht auftraf, war irgendwie befreiend gewesen. So, als könne er sich dadurch selbst bestrafen. Allerdings war das Gefühl nur von kurzer Dauer. Der Schmerz ließ schnell nach, weshalb er erneut auf den Mitschüler losging. Sein Sportlehrer jedoch stellte sich dazwischen. Warum es zum Streit kam, weiß Ryan gar nicht mehr. Es ist für ihn auch in keinster Weise wichtig.
»Wir sind da«, erklärt Mila, als wüsste ihr Bruder nicht, dass im Gebäude vor ihm ihr Hausarzt praktiziert.
»Ich war hier schon einmal. Erinnerst du dich?«, motzt er seine Schwester an, doch sie ignoriert ihn und verlässt den Wagen.
In der Praxis ist kaum etwas los, was daran liegt, das Dr. Reynolds zu den exklusiveren Ärzten in Fort Myers gehört. Nachdem die Sprechstundenhilfe einen Blick auf Ryan geworfen hat, hält sie es für besser, ihn gleich in den Untersuchungsraum zu führen. Ryan kann leider nicht verhindern, dass Mila ihn begleitet. Die ganze Zeit über, in der sie schweigend auf den Doktor warten, mustert sie ihn intensiv. Ein unbändiges Gefühl der Wut steigt plötzlich in ihm hoch und er springt auf.
»Kannst du woanders hinschauen?«, fährt er seine Schwester an und geht drohend auf sie zu.
Mila bekommt es mit der Angst zu tun. Unauffällig versucht sie einen Weg zu finden, um an ihrem Bruder vorbeizukommen. Doch er steht zwischen ihr und der Tür, die sich zu ihrem Glück soeben öffnet.
»Miss Dearing. Ryan«, grüßt Dr. Reynolds die beiden freundlich und entschärft so unbewusst die Situation.
Ryan ballt die Hände zu Fäusten. Er kämpft mit seiner Beherrschung, während Mila den Arzt über den Tod ihrer Eltern unterrichtet und erzählt, wie es ihnen seither geht.
»Warum seid ihr nicht gleich zu mir gekommen?«, fragt Dr. Reynolds vorwurfsvoll. »Ich verschreibe dem Jungen etwas, damit er besser schlafen kann. Wenn dennoch keine Besserung eintritt, solltet ihr zu einem guten Psychologen gehen. Dr. Moyaert zum Beispiel …«
»Vergiss es!«, knurrt Ryan, als Mila ihn fragend ansieht.
»Du musst das keinesfalls jetzt entscheiden«, beschwichtigt ihn der Arzt. »Vielleicht reichen dir die Tabletten. Und nun lass mich mal nach deinem hübschen Riechkolben sehen.«
Vorsichtig tastet er Ryans Nase ab, stellt jedoch bis auf eine Schwellung nichts Schlimmes fest.
»Die wird noch ein paar Tage schmerzen, aber es ist alles in Ordnung, nichts gebrochen.«
Ryan wirft seiner Schwester einen Blick zu, der so viel heißen soll wie: Und du schleifst mich hierher.
Nachdem sie das Schlafmittel in der Pharmacy um die Ecke geholt haben, begeben sie sich auf den Heimweg. Kurz bevor sie das Hotel erreichen, verlangt Ryan plötzlich, dass Mila den Wagen anhält.
»Den Rest laufe ich«, erklärt er und steigt aus.
Mila spielt kurz mit dem Gedanken, es ihm zu verbieten, entscheidet sich jedoch zu seinen Gunsten und fährt alleine weiter. Vielleicht braucht er auch nur ein wenig Zeit für sich. Seit er aus Europa zurück ist, hat sie ihn kaum aus den Augen gelassen.
Ryan atmet erleichtert auf. Er hat nicht vor, auf direktem Weg nach Hause zu gehen, und schlendert deshalb zum Strand. Dort angekommen setzt er sich nah ans Wasser, sodass die Wellen seine Füße berühren. Wie sehr mochte er dieses Fleckchen Erde immer, doch jetzt kommt ihm alles befremdlich vor. Er legt sich auf den Rücken und starrt in den Himmel. Das monotone Geräusch des regen Treibens um ihn herum lullt ihn ein und die Übermüdung der vorangegangenen Tage fordert nun ihren Tribut. Ryans Lider werden schwer und schon bald befindet er sich im Reich der Träume. Allerdings ist der Schlaf alles andere als erholsam. Nach und nach drängen sich Bilder in sein Unterbewusstsein. Die Hand seines Vaters, die klatschend auf seiner Wange landet. Das enttäuschte Gesicht seiner Mutter, als Dad ihr erklärt, warum sie mit Ryan den Platz tauschen soll. Der Pferdeanhänger, der ins Schlingern gerät und letzten Endes zur Seite fällt. Zwischen diese Momentaufnahmen drängt sich hin und wieder das Antlitz eines rothaarigen Mädchens mit achatgrünen Augen. Mit einem lauten ›Nein‹ schreckt er abrupt hoch und blickt sich orientierungslos um. Verwundert stellt er fest, dass der Strand fast leer und die Sonne längst untergegangen ist.
Verzweifelt fährt er sich mit den Fingern durchs Haar. All das, was ihm sein Unterbewusstsein soeben vermittelt hat, muss er Nacht für Nacht durchleben … und noch einiges mehr. Ryan schüttelt unwillig den Kopf. Er will nicht an Deutschland denken. Nicht jetzt, nicht morgen, überhaupt nie mehr. Er möchte, dass endlich Ruhe in seinem Kopf herrscht.
Der Lärm einer ausgelassenen Party dringt an sein Ohr. In der Nähe ist eine Hotelbar, die abends eine Stranddisco betreibt. Neugierig nähert er sich dem Strandabschnitt. Aufgrund seines Alters darf er das Gebäude zwar nicht betreten, doch der Strand ist öffentlich zugänglich und es verirren sich andauernd betrunkene Gäste hierhin. Schon nach kurzer Zeit kommt eine Gruppe junger Leute torkelnd auf ihn zu und schließt ihn lachend in ihre Mitte. Auf einmal hat er einen Becher Alkohol in der Hand und kippt den Inhalt, ohne zu zögern, hinunter. Das Zeug brennt sich seine Kehle hinab und breitet sich warm in seinem Körper aus. Einer der Männer holt eine Flasche aus seinem Rucksack und schenkt eine weitere Runde ein. Ryan leert den Becher abermals auf ex. Das Spiel wiederholt sich mehrere Male.
»Der Kleine ist aber durstig«, lallt eines der Mädchen und versucht, ihm um den Hals zu fallen. Da flackert unvermittelt eine Erinnerung vor Ryans innerem Auge auf. Hastig stößt er die junge Frau von sich und sucht das Weite.
»Hey, du musst doch nicht gleich abhauen!«, grölt ihm die Gruppe hinterher, allerdings hat Ryan plötzlich genug und will auf keinen Fall dortbleiben. Ohne sich umzusehen, läuft er heimwärts. So entgeht ihm auch, wie knapp er den beiden Polizisten entkommt, die soeben zwischen den Hotelgebäuden den Strandabschnitt betreten.
Ryan kehrt ohne Umwege nach Hause zurück. Auf die Begegnung mit Mila freut er sich jetzt schon. Sie wird ihn nicht einen, sondern gleich zwei Köpfe kürzer machen. Das ist ihm jedoch egal. Da er keinen Alkohol gewöhnt ist und er zudem kaum etwas gegessen hat, entfaltet das Teufelszeug schnell seine volle Wirkung. Ein Hochgefühl durchströmt ihn und lässt ihn den Kummer vergessen. Endlich driften seine Gedanken nicht mehr an den schicksalhaften Tag zurück. Dementsprechend gut gelaunt kommt er am Hotel an. Er torkelt in die Wohnung und damit direkt in Milas Arme.
»Ryan? Hast du etwa getrunken?«, erkundigt sie sich fassungslos. »Du riechst, als wärst du in ein Schnapsfass gefallen!«
»Vielleicht bin ich das auch.« Ryan grinst sie unbekümmert an. Dann schiebt er seine Schwester zur Seite und lässt sich auf die Couch fallen.
Entgeistert blickt ihm Mila dabei zu. Sie weiß nicht, ob sie schreien oder weinen soll. Wie konnte sie nur denken, dass sie schon mit einem Jugendlichen fertig wird. Ihr Bruder bringt sie noch an den Rand des Wahnsinns.
»Du bist erst fünfzehn, hast du den Verstand verloren? Wenn die Polizei dich erwischt hätte.«
»Fast sechzehn!«, korrigiert er seine Schwester. »Aber du hast recht. Das nächste Mal lasse ich mich von ihnen schnappen, dann muss ich nicht zu Fuß laufen. Die bringen mich bestimmt nach Hause.«
»Ryan!« Sie betrachtet ihn hilflos. »Das ist kein Spaß, wenn du Pech hast, kannst du deinen Führerschein für die nächsten Jahre vergessen. Mal abgesehen davon ist Alkohol alles andere als gut für dich!«
»Chill mal! Mir geht es bestens!«
Noch während er das sagt, beginnt Ryan zu würgen. Hastig springt er auf und rennt ins Bad. Mila folgt ihm angewidert, da sie es nicht übers Herz bringt, ihn sich selbst zu überlassen. Sie bleibt bei ihm, bis sich sein Magen beruhigt hat, und verfrachtet ihn anschließend ins Bett. Als ihr Bruder friedlich schlummernd auf seinen Kissen liegt, kommen erneut Zweifel in ihr auf, ob sie der Aufgabe überhaupt gewachsen ist.