Leseprobe Moesha – Die Suche nach Glück
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Kapitel 1
»Mama! Mama! Wach doch auf, Mama!« Wie ein Wirbelwind stürmte meine fünfjährige Tochter ins Schlafzimmer. Sie sprang mit einem großen Satz mitten auf das Bett und zerrte an der Bettdecke. »Mama! Augen auf, es ist schon hell!«
Schlaftrunken linste ich zum Wecker. Das konnte nicht wahr sein. Wir hatten gerade einmal sieben Uhr und mein kleiner Wildfang war putzmunter. Ihre krausen Haare standen ungebändigt in alle Richtungen und wippten bei jedem Schritt lustig auf und ab. Sie war ihrem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten. Fröhliche Augen blitzten unter den dunklen, geschwungenen Augenbrauen hervor. Den Kopf leicht zur Seite geneigt grinste sie verschmitzt. Genau so hatte mich Joshua immer angesehen, bevor er mich küsste. Die vollen Lippen ließen unmissverständlich ihre Herkunft erkennen und waren der eindeutige Beweis dafür, dass zum Teil afrikanisches Blut in ihren Adern floss. Nur die Stupsnase und die etwas hellere Farbe der Haut zeugten davon, dass sie auch meine Tochter war. Ebenso ihr überschwängliches Temperament, das meinem in nichts nachstand.
»Moesha, du sollst mich doch schlafen lassen. Ich habe gestern bis spät in die Nacht gearbeitet«, rügte ich sie. Dabei versuchte ich, meiner Stimme einen tadelnden Klang zu verleihen. Unbeeindruckt schlüpfte sie zu mir unter die Decke und kuschelte sich an mich.
»Aber Mama, du musst jetzt unsere Koffer packen«, drängelte sie ungeduldig.
»Süße, dafür haben wir noch den ganzen Tag Zeit.« Seufzend drückte ich mein Mädchen an mich. Ich konnte ihre Aufregung gut verstehen, denn langsam aber sicher machte sich auch in mir Unruhe breit. Schließlich wollten wir am nächsten Morgen in aller Frühe aufbrechen, um in das Land zu reisen, in dem ihr Papá lebte.
Sechs Jahre waren vergangen, seit ich Joshua Raymond verlassen musste. Mehr als seine zwei Vornamen kannte ich nicht. Obwohl ich kaum Hoffnung hegte, ihn wiederzufinden, wollte ich es trotzdem versuchen.
Moesha hatte ich in meine Pläne bislang nicht eingeweiht und sie in dem Glauben gelassen, dass wir in die Dominikanische Republik flogen, um ihr das Heimatland ihres Vaters zu zeigen. Und das war gut so. Sie hatte in ihrem kurzen Leben bereits zu viele Enttäuschungen ertragen müssen.
»Mama? Treffen wir dort meinen Papá?«, erkundigte sie sich aus heiterem Himmel. Moesha war schlauer, als ich es von einer Fünfjährigen erwartet hätte. Ihre rehbraunen Augen fixierten mich, als wüssten sie genau, wo ich gerade mit meinen Gedanken war. Zärtlich streichelte ich ihr die Wange. »Das weiß ich leider nicht, meine Süße.«
»Aber wir suchen ihn, oder?« Sie strahlte über das ganze Gesicht und schlüpfte mit ihren kalten Füßen unter mein Oberteil. Instinktiv hielt ich die Luft an, dann wuschelte ich ihr seufzend durch die Locken. »Ja, Kleines! Das machen wir.«
»Erzählst du mir von Papá?«
Lächelnd betrachtete ich mein Kind. Moesha konnte nicht genug Geschichten über ihren Vater hören und ich war immer gerne bereit, ihrem Wunsch nachzukommen. Immerhin hatte ich mit Joshua die schönsten Wochen meines Lebens verbracht.
»Was willst du wissen?«
»Sehe ich wirklich so aus wie er?«
Ich wickelte mir eine Strähne ihres widerspenstigen Haares um den Finger. Es fühlte sich fein an, nicht borstig, wie man es dem Aussehen nach erwarten würde.
»Ja, Kleines. Dein Haar ist wie seins. Weich und flauschig wie ein Wattebausch, mit ebenso süßen krausen Löckchen.«
Skeptisch beäugte mich meine Tochter. Ihr Wuschelkopf war andauernd ein Streitthema zwischen uns, da Moesha lieber meine glatten Haare hätte.
»Und genau deshalb bin ich froh, dass du nicht meine blonden Zotteln hast. Wenn ich dir über den Kopf streiche, erinnert mich das an deinen Papá.« Melancholie ergriff Besitz von mir. Noch immer gelang es mir nicht, ohne Wehmut an Moeshas Vater zu denken. »Komm, wir fangen an zu packen«, forderte ich meine Kleine auf, bevor mir noch Tränen in die Augen stiegen.
Vorsichtig löste ich mich von ihr, streckte ein Bein aus dem Bett und angelte nach den Hausschuhen. Ich war erleichtert, dass Moesha sofort wieder Feuer fing, und somit vergaß, weitere Fragen zu stellen. Heute ging mir der Gedanke an damals besonders nah.
Mein Vater stahl mir sechs Jahre meines Lebens, indem er verhinderte, dass ich den Kontakt zu Joshua auch nach dem Urlaub aufrechterhalten konnte. Nachdem er erfahren hatte, dass ich eine ›Affäre mit einem Bimbo‹ hatte – wie er es verächtlich bezeichnete – behielt er mich die restlichen Tage, die wir in der Dom Rep verbrachten, im Auge. Dadurch bekam ich keine Gelegenheit mehr, Joshua nach seiner Adresse oder Telefonnummer zu fragen. Auch nach meiner Rückkehr gelang es mir nicht, sie ausfindig zu machen. Als ich später auch noch gestehen musste, dass die Liaison nicht ohne Folgen geblieben war, gab es für ihn keine Tochter mehr.
»Dieses Mulattenbalg wird niemals mein Enkel sein!«, hatte er gebrüllt und mir über meine Mutter mitteilen lassen, dass es in seinem Haus für mich keinen Platz mehr geben würde, sollte ich dieses Kind bekommen.
Gereizt zerrte ich einen Koffer aus der Abstellkammer. Wenn er wüsste, dass ich im Begriff war, in die Dominikanische Republik zurückzukehren, um nach Moeshas Vater zu suchen, wäre er vermutlich an die Decke gegangen.
An dem Tag, an dem meine Tochter das Licht der Welt erblickte und er mit Entsetzen feststellen musste, dass ich dieses Baby auf gar keinen Fall zur Adoption freigeben würde, machte er seine Drohung wahr und sprach kein Wort mehr mit mir.
Wenigstens musste Moesha nicht auch noch auf ihre Oma verzichten, denn meine Mutter liebte ihre Enkelin abgöttisch. Trotzdem fand sie nicht den Mut, sich gegenüber meinem Vater durchzusetzen, und so besuchte sie zwar mich, mir hingegen blieb der Zutritt zu meinem Elternhaus weiterhin verwehrt.
Natürlich hatte der Tyrann von einem Vater mir sofort nach Moeshas Geburt den Geldhahn zugedreht. Zum Glück schaffte ich es mithilfe meiner Mutter und meiner Ersparnisse, das Jurastudium zu beenden. Es war alles andere als einfach und im Nachhinein betrachtet, wunderte ich mich, wie ich es geschafft hatte, Studium, Baby und Job unter einen Hut zu bekommen.
Obwohl mir gerade der Job die Situation doch sehr erleichterte. Da mich mein Vater von Anfang an kurzhielt, musste ich bereits während des Studiums in einer Kanzlei arbeiten, um über die Runden zu kommen. Zu meinem Chef, Stephan Kern, hatte ich rasch ein freundschaftliches Verhältnis aufgebaut, das mir in meiner prekären Lebenslage nun zugutekam. Schon vor dem Urlaub hatte er mir mitgeteilt, dass ich nach dem Studienabschluss übernommen werden sollte. Dazu stand Stephan auch noch, als er von meiner Schwangerschaft erfuhr.
»Das Kind schaukeln wir gemeinsam«, hatte er mit einem Lächeln zu mir gesagt und dafür gesorgt, dass ich oft von zu Hause aus arbeiten konnte. So war ich nicht gezwungen, mein Kind in fremde Hände zu geben, und Moesha musste nur selten auf ihre Mama verzichten.
»Darf ich das blaue Kleid mitnehmen?« Meine Tochter kam mit Klamotten beladen ins Schlafzimmer gestürzt und warf sie mitten aufs Bett, um daraufhin sofort in ihr Zimmer zurückzulaufen.
»Hey! Stop, Kleines! Ich helfe dir. Die meisten Sachen, die du angeschleppt hast, kannst du in der Karibik nicht gebrauchen. Du weißt doch, dass es dort viel wärmer ist als bei uns.«
Moesha blieb stehen, nickte eifrig und rannte zurück. Dann schnappte sie sich zwei der Pullover, um sie wieder in ihr Zimmer zu bringen. Ich kam nicht einmal dazu, in meine Jeans zu steigen, da klingelte es an der Tür.
»Moesha, kannst du bitte aufmachen? Ich muss mich noch anziehen. Das ist bestimmt die Omi.«
Ich hätte mir sparen können, sie dazu aufzufordern. Meine Kleine war längst an der Tür, und bevor der letzte Klingelton verhallte, fiel sie ihrer Großmutter um den Hals.
»Omiiii!«, kreischte sie und gab ihr einen dicken Kuss auf die Backe.
»Guten Morgen, Mäuschen«, lachte sie und nahm ihre Enkelin auf den Arm. »Na? Bist du schon aufgeregt?«
»Und wie! Wir werden meinen Papá suchen!«
Irritiert warf mir meine Mutter einen fragenden Blick zu. Ich hob abwehrend beide Hände und band mir anschließend die Haare im Nacken zu einem Knoten zusammen. »Sie ist selbst draufgekommen. Ich habe ihr nichts verraten«, verteidigte ich mich.
Meine Mutter stellte Moesha auf den Boden, die sogleich in ihr Zimmer flitzte, und kam auf mich zu. Liebevoll hauchte sie mir einen Kuss auf die Stirn. Sie roch wie immer nach ihrem sündhaft teuren Parfum. Auch wenn einige silbrige Strähnen ihr kurzes blondes Haar durchzogen, sah man es ihr nicht an, dass sie schon bald ihren zweiundfünfzigsten Geburtstag feiern würde.
»Du weißt, ich wünsche euch von ganzem Herzen Glück bei eurer Suche. Aber was wirst du tun, wenn du ihn tatsächlich findest?«
Ich zuckte ratlos mit den Schultern und nahm meiner Mutter den Mantel ab. Darüber hatte ich mir noch keine Gedanken gemacht.
»Melanie, in den sechs Jahren kann so viel passiert sein. Du hast keine Ahnung, was er heute macht, wo er gerade ist. Vielleicht hat er geheiratet und mit einer anderen Frau eine Familie gegründet. Du könntest mit deiner Suche sein ganzes Leben durcheinanderbringen. Willst du ihm das wirklich antun?«
»Mama! Darüber haben wir doch schon gesprochen. Ich habe schon viel zu lange damit gewartet. Er hat ein Recht darauf zu erfahren, dass er eine Tochter hat. Das bin ich ihm schuldig. Erst muss ich ihn finden, alles andere wird sich dann ergeben.« Ich hielt inne und atmete tief ein. »Kannst du bitte bei Moesha bleiben? Ich muss auf einen Sprung in die Kanzlei.«
»Sicher! Ich mach meiner Lieblingsenkelin Frühstück. Willst du einen Kaffee?«, erkundigte sie sich und verschwand in der Küche.
»Keine Zeit!«, rief ich und hastete ins Badezimmer. Heute musste eine Katzenwäsche reichen. Anschließend suchte ich fluchend nach meiner Handtasche und schnappte mir die Akten, die ich gestern noch bearbeitet hatte. Moesha fing mich an der Tür ab und musterte mich verunsichert.
»Keine Angst, Süße. Ich brauch nicht lange. Ich muss nur Onkel Chris etwas vorbeibringen.«
»Du fliegst nicht ohne mich, oder?«, ängstlich hielt sie meinen Arm fest.
»Aber nein, was denkst du von mir? Ich kann doch nicht auf die beste Spürnase der Welt verzichten.«
Übermütig kniff ich ihr in die Seite und sie ließ sich glucksend auf den Boden fallen. Ich beugte mich zu ihr herunter und kitzelte sie weiter.
»Aufhören! Aufhören! Ich muss Pipi«, wimmerte Moesha nach kurzer Zeit und ich stoppte meine Kitzelattacke. Sie sprang eilig auf und hastete quer durch die Wohnung, um es rechtzeitig auf das WC zu schaffen. Schnell nutzte ich die Gelegenheit, nickte meiner Mutter zum Abschied zu und schloss leise die Tür hinter mir. Bevor ich das exklusive Wohnhaus verließ, in das ich vor einem Jahr eingezogen war, holte ich tief Luft.
Draußen auf dem Gehweg strömte das Stadtleben an mir vorbei. Ein Mann im Maßanzug – das Handy ans Ohr gedrückt und angeregt in ein Gespräch vertieft – achtete kaum auf seinen Weg. Kinder trugen ihre übergroßen Ranzen in Richtung Schule und foppten sich gegenseitig.
Eine ältere, gut gekleidete Dame aus der Nachbarschaft ging schwerfällig mit einem Dackel Gassi, der sich mit lautstarkem Gebell über den Labrador auf der anderen Straßenseite brüskierte.
Lachend schüttelte ich angesichts des Größenwahns des kleinen Kerlchens den Kopf und ließ mich vom Menschenstrom mitreißen. Die Kanzlei ›Kern&Kern‹, in der ich arbeitete, befand sich nur wenige Straßen stadteinwärts und zählte zu den renommiertesten Wiens.
Stephan hatte sich in den letzten fünf Jahren wie ein Vater um mich gekümmert. Völlig egal, um was es ging, unterstützte er mich immer, so gut er konnte. Ohne ihn hätte ich nie den Mut gefunden, die Reise anzutreten. Es war seine Idee gewesen, dass ich auf die Insel zurückkehren sollte, um nach Moeshas Vater zu suchen. Kurzerhand verpasste er mir Zwangsurlaub und drückte mir zwei Flugtickets in die Hand. Er konnte es nicht mehr mit ansehen, wie die Mutter seines Patenkindes darunter litt, ihr Mädchen alleine großziehen zu müssen, ohne dass der leibliche Vater von der Existenz seines Kindes überhaupt etwas ahnte.
Er sah in mir die Tochter, die er und seine Frau Sonja nie bekommen hatten. Gemeinsam mit seinem Sohn Christopher, der wie ein Bruder für mich war, hatten sie mich in ihre Familie aufgenommen. Sie gaben mir den Rückhalt, den mir der eigene Vater nicht mehr gewährte.
Ich lehnte mich mit aller Kraft gegen die Tür des Altbaus, bis sie knarrend nachgab. Jeder meiner Schritte hallte in dem hohen Treppenhaus wider und ich beeilte mich, in den zweiten Stock zu kommen.
In der Kanzlei wurde ich von unserer Empfangsdame mit einem fragenden Blick begrüßt. »Guten Morgen, Melanie. Ich dachte, Sie haben ab heute Urlaub?«
»Guten Morgen, Silvia. Habe ich auch. Aber ich muss Chris noch die Unterlagen vorbeibringen. Kann ich zu ihm? Ist er in seinem Büro?«
Silvia nickte, und als sie der Meinung war, ich würde es nicht mehr bemerken, warf sie mir einen verächtlichen Blick hinterher. Sie war von Anfang an eifersüchtig auf mich gewesen. Es missfiel ihr, dass ich sofort ein engeres Verhältnis zu Christopher aufgebaut hatte als sie.
Silvia war seit über acht Jahren für die Kanzlei ›Kern&Kern‹ tätig und himmelte den Juniorchef bereits an, als ich dort zu arbeiten begann. Dass dieser glücklich verheiratet war und mit seiner bezaubernde Frau Caroline einen bildhübschen, aufgeweckten Sohn hatte, schien sie nicht zu interessieren.
Ich klopfte an Christophers Tür und wartete auf ein Zeichen, um sein Büro zu betreten. Erst nach einer ganzen Weile ertönte ein kurzes ›Herein‹ und ich trat ein.
»Hallo Chris.« Skeptisch musterte ich ihn. »Ich hoffe, ich störe nicht.«
»Guten Morgen, Mel. Nein, mach dir keine Gedanken. Es tut mir leid, dass du warten musstest. Ich hatte noch ein Telefongespräch mit einem Mandanten. Du bringst mir die Unterlagen?«
Er erhob sich hinter seinem Schreibtisch und forderte mich mit einer einladenden Geste auf, mich zu setzen. Ich konnte Silvia schon verstehen, warum sie nicht aufgeben wollte, von ihm zu träumen. Man konnte Christopher zwar nicht als hübsch bezeichnen, doch durch sein souveränes Auftreten strahlte er Autorität aus und das wiederum machte ihn interessant.
Seine fachliche Kompetenz und der ungebrochene Kampfgeist ließen ihn zu einem der erfolgreichsten Anwälte Wiens aufsteigen. Dementsprechend musste sich die Kanzlei ›Kern&Kern‹ auch keine Sorgen machen, an neue Mandanten zu kommen. Im Gegenteil, viele prominente Leute rissen sich darum, von uns vertreten zu werden.
»Ich habe für dich gestern noch alles Relevante hervorgehoben und ich konnte zwei passende Fallbeispiele finden.« Mit einem Lächeln streckte ich ihm die Unterlagen entgegen. »Und Chris, danke, dass du für mich einspringst.«
»Jetzt hör schon auf, dich zu bedanken. Ich habe dir doch gesagt, dass es für mich selbstverständlich ist.«
Er nahm die Akte und schlug sie interessiert auf. Ich ließ ihm ein wenig Zeit, um die Blätter zu überfliegen, dann erklärte ich: »Die Mandantin kommt heute Nachmittag. Ich habe ihr versichert, dass sie bei dir in den besten Händen sei. Mich ärgert es, dass dieser Termin so kurzfristig verschoben wurde. Wäre er wie geplant letzte Woche gewesen, hätte ich beruhigt abfliegen können.«
Ich war kurz davor gewesen, die Reise abzublasen, als ich von der Terminverlegung erfuhr, aber Stephan und Christopher wollten nichts davon hören. Chris beteuerte mir mehrmals, dass es sowieso nur noch eine Formsache wäre, vor Gericht zu erscheinen.
»Mach dir keine Sorgen. Du hast im Vorfeld so großartige Arbeit geleistet, dass gar nichts mehr schiefgehen kann.« Chris legte mir besänftigend seine Hände auf die Schultern. »Geh nach Hause, pack deine Koffer und flieg in die Karibik. Genieß deinen Urlaub, du hast ihn dir mehr als nur verdient.«
Ich atmete tief durch und sah ihn dankbar an, dann erhob ich mich, um mich von ihm zu verabschieden.
»Du wirst ihn finden, Mel, da bin ich mir ganz sicher. Und melde dich bei Eva-Lisa. Sie ist gerade dabei, ein paar Erkundungen einzuholen.«
Er drückte mir einen kleinen Zettel mit ihrer Telefonnummer in die Hand. Dass Christopher durch einen Mandanten Beziehungen zu einer Anwältin in der Dominikanischen Republik hatte, war ein glücklicher Zufall. Sie hatte ihn vor nicht allzu langer Zeit bei einem Grundstückskauf unterstützt. Meine Chancen, mit der Suche erfolgreich zu sein, stiegen dadurch um einiges. Durch sie bekam ich Zugang zu Melderegistern und anderen Unterlagen, die ich sonst nie zu Gesicht bekommen hätte. Chris kontaktierte sie, als feststand, dass ich mich auf das Abenteuer einlassen würde, und sie sagte sofort ihre Hilfe zu.
»Jetzt mach, dass du verschwindest! Ich will dich erst in drei Wochen wiedersehen.« Christopher drückte mir einen brüderlichen Kuss auf die Schläfe und schob mich zur Tür hinaus.
Seufzend rückte ich mir meine Tasche auf der Schulter zurecht und machte mich auf den Weg nach Hause, wo ich von meiner Tochter schon ungeduldig erwartet wurde.
* * *
Nach einer kurzen, unruhigen Nacht saßen Moesha und ich mit gepackten Koffern im Taxi, das uns zum Flughafen Wien-Schwechat brachte. Meine Kleine kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Für sie war es das erste Mal, dass sie mit einem Flugzeug verreisen durfte.
Mit offenem Mund drückte sie sich an der Fensterscheibe der Abflughalle die Nase platt. Während ich das Gepäck aufgab, beobachtete sie, wie die Flugzeuge auf die Startbahn rollten, um dann mit lautem Getöse abzuheben.
»Die machen aber viel Krach, Mama!«, meinte sie beeindruckt.
»Hast du Angst?«
»Nee! Wann dürfen wir in unseren Flieger?«
»Schon bald, Süße. Wollen wir vorher noch ein wenig bummeln gehen, oder möchtest du hier bleiben und weiter zugucken?«
Moesha sprang von dem kleinen Podest am Fenster, nahm meine Hand und zog mich unternehmungslustig in Richtung der Geschäfte. In einem Zeitungsladen entdeckte sie sofort die Kiste mit den Fillys und bettelte mich stumm mit den Augen an. Wie jedes kleine Mädchen war sie in diese bunten, fröhlichen Zauberponys völlig vernarrt. Ich erlaubte ihr zwei auszusuchen, die sogleich ein neues Zuhause in ihrem Sammelköfferchen fanden.
Dann begaben wir uns auf den Weg zu unserem Gate. Hinter dem Flughafen reckte gerade die Sonne ihre ersten Strahlen empor und tauchte die Ebene in ein tiefrotes Licht, als würde sie in Flammen stehen. Aus dem Augenwinkel bemerkte ich, wie mein kleines Mädchen herzzerreißend gähnte.
Der gestrige Tag war lang gewesen, deshalb hegte ich die Hoffnung, dass sie den Flug zum größten Teil verschlafen würde. Ich hatte einen Direktflug nach Santo Domingo gebucht, doch die elf Stunden Flug würden auch so sehr anstrengend werden.
Als wir beim Sicherheitscheck ankamen, konnte sie kaum noch die Augen offenhalten und hing mit ihrem ganzen Gewicht an meinem Arm. Der Beamte, der unsere Pässe kontrollierte, versuchte mit ihr zu scherzen, doch sie reagierte nur noch mit einem müden Lächeln. Ich hob mein Töchterchen kurz entschlossen hoch und setzte sie mir auf die Hüfte.
Dankbar ließ sie ihr Köpfchen auf meine Schulter fallen und begann mit zwei Fingern in meinen Haaren zu zwirbeln. Der Polizist war wie die meisten Menschen von Moeshas Anblick verzaubert.
»Die Kleine schläft Ihnen gleich ein«, schmunzelte er.
»Ja, sie fliegt zum ersten Mal und hat vor Aufregung heute Nacht kaum geschlafen. Wie weit ist es bis zum Gate?«
»Wohin fliegen Sie denn?« Interessiert musterte er unsere Tickets, dann fügte er hinzu: »Den Gang hinunter, der vorletzte Schalter. Schaffen Sie es mit der Kleinen oder soll ich Ihnen helfen?«
»Vielen Dank, sehr nett, aber ich komme schon zurecht. Wenn Sie mir vielleicht mein Handgepäck geben könnten?«
»Wissen Sie was, ich habe jetzt sowieso Feierabend. Ich begleite Sie.«
»Das ist wirklich nicht nötig. Es ist ja nicht weit. Aber trotzdem danke«, ich nickte dem Mann freundlich zu.
Er reichte mir Moeshas Köfferchen, das sie sofort von mir einforderte. Sie stopfte es zwischen ihre und meine Brust und flüsterte artig ein ›Danke‹. Dann nahm ich den kleinen Trolley in Empfang, auf den der nette Mann meine Jacke gehängt hatte, und machte mich auf den Weg.
Am Gate wurden wir von einem Steward erwartet, der mir das Gepäck abnahm und uns ins Flugzeug begleitete. Kurze Zeit später saß ich endlich auf meinem Platz und Moesha kletterte auf ihren Sitz. Sie hatte einen Fensterplatz und legte ihre Wange an die kalte Scheibe. Mit müden Augen beobachtete sie, wie wir auf die Startbahn rollten. Als das Flugzeug durchstartete, griff sie ängstlich nach meiner Hand und war schlagartig putzmunter. Ich bemerkte, wie sie die Luft anhielt und leicht vor Aufregung zitterte. Doch kaum hatten wir den Boden verlassen, atmete sie erleichtert aus und meinte total überwältigt: »Wir fliegen, Mama!«
»Ja, meine Süße. Wir fliegen.« Ich lächelte über mein begeisterungsfähiges Töchterchen. Sie drehte ihren Kopf zu mir und hauchte mit matter Stimme: »Bald sehe ich meinen Papá.«
»Das hoffe ich, meine Kleine«, murmelte ich traurig, weil ich mir nicht sicher war, ob unsere Suche von Erfolg gekrönt sein würde. In den letzten sechs Jahren konnte so vieles passiert sein. Moeshas Vater träumte damals davon, in den USA Karriere zu machen. Er wollte nach Las Vegas, um dort auf einer der berühmten Showbühnen groß rauszukommen. Was, wenn er sich diesen Wunsch erfüllt hatte?
»Ich hoffe es wirklich, meine Süße.« Sanft streichelte ich Moesha über die Wange und ihre Augen wurden immer schwerer. Kurze Zeit später war sie auch schon eingeschlafen. Zärtlich zog ich die dünne Decke über ihre Schultern, die ich von der Stewardess bekommen hatte, und machte es mir im Sitz bequem. Die Ungewissheit, ob meine Reise den gewünschten Ausgang haben würde, zehrte an meiner Kraft. Erschöpft schloss auch ich die Lider und meine Gedanken wanderten zum ersten und gleichzeitig einzigen Mal zurück, als ich in die Karibik flog. Bilder, so scharf, als wäre es erst gestern gewesen, erschienen vor meinem inneren Auge.
Ich war damals einundzwanzig, ohne festen Freund und heiß auf ein Abenteuer …
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Kapitel 2
»Melanie, trödle nicht so herum, sonst fliegt das Flugzeug ohne uns ab.« Die tadelnden Worte meines Vaters übertönten alle Geräusche in der Abflughalle. Ich war für zwei Minuten auf dem WC und er tat so, als hätte ich eine halbe Ewigkeit gebraucht.
»Ich komm ja schon. Reg dich nicht auf, wir haben noch über eine Stunde Zeit.« Missbilligend schüttelte ich den Kopf.
»Ich soll mich nicht aufregen? Du kannst gerne hierbleiben, wenn du frech wirst.« Mein Vater befand sich heute mal wieder in Höchstform.
Wahrscheinlich wäre es doch besser gewesen, zu Hause zu bleiben, schoss es mir durch den Kopf. All meine Freunde rümpften die Nase, als ich erzählte, dass ich mit meinen Eltern in den Urlaub fuhr. Na gut, sie hatten auf eine Art recht, doch es war nicht einfach nur ein Urlaub. Es war ein Traumurlaub, für den ich keinen Cent beitragen musste. Dafür würde ich Vaters Launen drei Wochen lang geduldig ertragen können.
»Wolfgang. Lasst uns lieber die freie Zeit genießen, anstatt uns zu streiten«, versuchte meine Mutter uns zu besänftigen.
»Ich streite mich doch gar nicht. Mich ärgert es nur, dass Madam anscheinend der Meinung ist, dieses verdammte Flugzeug würde auf sie warten.« Er warf mir einen vorwurfsvollen Blick zu, der so viel heißen sollte wie: Na, siehst du, was du angerichtet hast? Du hast deiner Mutter den Urlaub verdorben.
Da mir bekannt war, dass er unter Flugangst litt, ignorierte ich ihn einfach. Seine Laune würde sich bessern, sobald seine Tabletten endlich wirkten, und genau so kam es dann auch. Nachdem wir den Bodenkontakt verloren hatten und der Vogel sicher in die Luft gestiegen war, holte mein Vater tief Luft und grinste meine Mutter und mich an.
»Endlich geht’s los. Melanie, es freut mich, dass du dich doch dazu entschieden hast, mit uns zu kommen. Eigentlich dachte ich, dass du lieber mit Michael in den Urlaub fahren würdest.«
»Papa, mit dem ist doch schon seit Wochen Schluss.«
Die Trennung war hässlich gewesen, aber längst überfällig. Michael hatte begonnen, mich zu kontrollieren. Er folgte mir in die Uni und beschattete mich auf Schritt und Tritt, um mich beim Fremdgehen zu erwischen. Als ich ihm auf die Schliche kam, wollte ich sofort die Notbremse ziehen. Doch so einfach war das nicht. Die letzten Monate drohte er immer wieder, dass er sich umbringen würde, sollte ich ihm den Laufpass geben. Als er jedoch einen meiner Kommilitonen grundlos angriff und ihn wüst beschimpfte, war das Maß voll. Ich brüllte ihn an, dass ich es nicht mehr mit ihm aushalten würde, und als er wieder mit der Selbstmord Geschichte anfing, tat ich so, als wäre es mir egal. Ich bot ihm sogar an, einen Strick zu kaufen, sollte er sich fürs Erhängen entscheiden. Anscheinend hatte ich damit genau das Richtige getan, denn er trat fluchend den Rückzug an. Im Nachhinein musste ich zugeben, dass ich das schon viel früher hätte tun sollen.
»Das verstehe ich nicht. Michael ist so ein netter Junge. Er wird bestimmt einmal ein guter Arzt. Sprich doch mit ihm, vielleicht vergibt er dir ja.«
Dass mein Vater mutmaßte, ich wäre schuld am Scheitern der Beziehung, überraschte mich überhaupt nicht. Immer ging er davon aus, dass es an mir lag, wenn etwas nicht funktionierte. Er traute mir auch nicht zu, eine gute Anwältin zu werden, und bezeichnete mein Studium von Anfang an als Schnapsidee. Zum Glück schaffte es meine Mutter, ihn vom Gegenteil zu überzeugen. So durfte ich mit dem Jurastudium beginnen, obwohl mein Vater der Ansicht war, ich sollte mir lieber einen Mann suchen – am besten einen Arzt –, heiraten und Kinder großziehen. Zu mehr sei eine Frau nicht fähig, betonte er immer wieder.
»Vergiss es, der Arsch kann sich eine andere suchen«, sagte ich verbittert und starrte aus dem Fenster.
»Claudia, kannst du deine Tochter zur Vernunft bringen?«, herrschte mein Vater meine Mutter an.
»Lass sie doch, Wolfgang. Michael war einfach nicht der Richtige für sie. Vielleicht klappt es ja mit diesem Christopher, der ist doch nett.«
»Mama!«, stöhnte ich genervt auf. »Ich habe dir schon mehrmals gesagt, dass Christopher mich nur von der Feier nach Hause gefahren hat. Er ist verheiratet und hat gerade einen Sohn bekommen.«
»Och, das ist aber schade«, meinte meine Mutter enttäuscht.
Ich steckte mir die Kopfhörer in die Ohren und war froh, dass das Bordsystem mittlerweile hochgefahren war. Dankbar blendete ich die Nörgelei meiner Eltern aus und konzentrierte mich auf den Film. Die nächsten neunzehn Stunden waren die längsten und anstrengendsten meines bisherigen Lebens. Wir mussten zweimal umsteigen, da mein Vater zu geizig war, einen Direktflug zu buchen. Beide Male war ich kurz davor, den Heimweg anzutreten. Manchmal könnte ich meinen alten Herrn in der Luft zerreißen. Als Chefarzt in der städtischen Klinik verdiente er nicht schlecht, doch er hielt uns an der kurzen Leine, als hätten wir Geldprobleme.
Erfreulicherweise stand mir für die Dauer unseres Aufenthalts ein eigenes Zimmer zur Verfügung, was allerdings nur dem Zufall zu verdanken war. Mein Vater hatte zwar versucht, eine Suite zu buchen, aber in diesem Club gab es keine und die anderen Hotels waren ihm zu teuer. So musste er sich mit zwei übereinanderliegenden Zimmern begnügen, die sich mit sechs weiteren in einem kleinen Häuschen befanden.
Zu meinem Glück! Drei Wochen in einem Raum mit meinem Vater wären tödlich gewesen. Für mich oder für ihn. Wäre es nicht die Karibik gewesen, mit der meine Eltern mich gelockt hatten, hätten mich keine zehn Pferde zum Mitfliegen bewegen können. Aber ein Aufenthalt in der Dominikanischen Republik übertrumpfte alle negativen Aspekte, die mir in den Sinn kamen.
Die Ferienanlage, in der wir unseren Urlaub verbrachten, beherbergte mehrere Resorts, ein kleines Einkaufszentrum und einige Bars, die in der Nacht gut besucht waren. Die meisten der Hotels waren höchstens ein bis zwei Jahre alt, unseres sogar erst ein paar Monate. Stellenweise roch es noch nach frischer Farbe und ich war mir nicht sicher, ob in meinem Bett überhaupt schon jemand geschlafen hatte. Lächelnd fotografierte ich die zwei kunstvoll zu einer Blüte gefalteten Handtücher, die der Zimmerservice liebevoll auf der Tagesdecke des Bettes drapiert hatte. Nach einem weiteren Motiv suchend sah ich mich um.
Auf einem Tischchen neben der Balkontür stand eine Vase mit einem Orchideenzweig. Ich liebte diese zarten Blumen, die auf der Insel genauso verbreitet waren wie bei uns zu Hause der Löwenzahn. Egal ob auf Bäumen oder darunter, ob in Blumentöpfen oder auf der Rasenfläche vor dem Hauptgebäude, wo ich hinsah, wuchs eine Orchidee. Es gab sie in allen Farben und Formen und diese Exemplare verströmten zudem einen betörenden Duft. Ich knipste ein paar Nahaufnahmen der rosafarbenen Blüten, dann warf ich seufzend die Kamera auf das Bett und begab mich auf den Balkon.
Irgendjemand hatte meinem Vater erzählt, der Februar wäre der beste Monat, um in die Dom Rep zu fliegen. Zu dieser Zeit wären die Temperaturen noch angenehm und die Regenzeit schon vorbei. Das mit der Regenzeit mochte ja stimmen, aber unter ›angenehmen Temperaturen‹ verstand ich etwas anderes. Vielleicht empfand ich es auch nur als so heiß, da zu Hause tiefster Winter herrschte. Laut Thermometer hatten wir nämlich gerade einmal achtundzwanzig Grad Celsius. Schweißperlen bildeten sich auf meiner Stirn, die sich nach kurzer Zeit über meine Schläfen und meine Nasenspitze einen Weg nach unten bahnten. Der sanfte Wind verschaffte nur hin und wieder ein wenig Erleichterung.
Lange hielt ich es in der Nachmittagssonne nicht aus und war deshalb keineswegs böse, als mich ein Klopfen zurück ins Zimmer rief. Noch bevor ich den Gast hereinbitten konnte, öffnete meine Mutter die Tür.
»Bist du so weit, Melanie? Dein Vater möchte essen gehen.« Neugierig inspizierte sie mein Reich, um sogleich vorwurfsvoll mit dem Kopf zu schütteln. »Du hast ja noch nicht einmal ausgepackt.«
»Das mache ich nachher«, erklärte ich und zerrte aus den Tiefen meines Koffers ein leichtes Sommerkleid hervor.
»Dein Zimmer ist etwas kleiner als unseres«, stellte meine Mutter fest, während sie ungeduldig auf mich wartete. »Beeil dich, sonst dreht dein Vater noch durch. Du weißt doch, wie er ist, wenn er hungrig ist.«
»Mama, er ist immer so. Ich verstehe nicht, wie du es mit ihm überhaupt aushältst.« Ich schnappte meine Sonnenbrille und steckte sie in meine Haare. Als Chefarzt brachte ihm seine herrische Art sicherlich Vorteile, doch als Familienvater versagte er in meinen Augen auf ganzer Linie. Meine Mutter zuckte nur mit den Schultern und hielt mir die Tür auf.
»Ich habe damals versprochen, in guten wie in schlechten Tagen zu ihm zu halten.«
»Das hat er auch und er hält sich nicht daran«, argumentierte ich und ging die Treppe hinunter. Eigentlich tat sie mir leid. Sie litt unter der Beziehung, konnte aber aufgrund ihrer religiösen Einstellung nicht loslassen. Meine Mutter kam nicht mehr dazu, mir zu antworten, da mein Vater in diesem Moment zu uns stieß.
»Na meine Damen, auch schon fertig?«, erkundigte er sich zynisch und musterte mich von oben bis unten. »Hast du abgenommen, Melanie? Du siehst in dem Kleid aus wie ein Klappergestell.« Ungeduldig schob er meine Mutter aus dem Haus.
Widerwillig folgte ich den beiden. In mir brodelte es gewaltig. Mein Vater konnte mich nicht eine Minute in Frieden lassen. Am laufenden Band fand er etwas zum Bemängeln. Ich war so verärgert, dass ich nicht einmal die Schönheit der Hotelanlage wahrnahm, und kam erst zur Ruhe, als ich im Restaurant in einen bequemen Sessel sank.
Die Bedienungen, die hier herumflitzten, waren alle Dominikaner. Sie spiegelten die bunte Mischung verschiedener Kulturen und Rassen wider, die sich hier im Laufe der Jahre gebildet hatte. Dunkelhäutigen Menschen war ich bisher nur ein paar Mal begegnet, daher starrte ich den Kellner, der sich in gebrochenem Englisch nach unseren Wünschen erkundigte, fasziniert an. Seine haselnussbraune Haut glänzte in der düsteren Beleuchtung, als hätte er sie eingeölt. Er stellte sich als Pepe vor und seine schneeweißen Zähne blitzten, als er mich dabei anlächelte.
Meine Mutter knuffte mich in die Rippen, sobald Pepe den Tisch verlassen hatte, um unsere Getränke zu holen. »Der ist aber süß. Und wie der dich angelächelt hat.«
Noch bevor ich etwas sagen konnte, polterte mein Vater los: »Sag mal, Claudia, hast du vollständig den Verstand verloren? Melanie macht doch nicht mit einem Schwarzen rum!«
Bestürzt starrte ich meinen Vater an. Diese rassistische Seite an ihm kannte ich noch nicht. Dass er an meinen Typen kein gutes Haar lassen konnte – Michael war die einzige Ausnahme –, daran hatte ich mich schon gewöhnt. Ungeachtet dessen hatte er sich noch nie in so einem abfälligen Ton geäußert.
»Schau nicht so entsetzt. Ich finde das ekelhaft.« Es schüttelte ihn regelrecht und die Abscheu, die bei dem Gedanken in ihm hochstieg, konnte man deutlich erkennen.
»Reg dich ab, Wolfgang, sie will ihn ja nicht gleich heiraten. Gegen einen Urlaubsflirt ist doch nichts einzuwenden«, verteidigte mich meine Mutter.
»Bist du von allen guten Geistern verlassen? Kein Schwarzer vergreift sich an meiner Tochter«, schnauzte er sie an, bevor er sich noch einmal eindringlich an mich wandte. »Wenn ich dich auch nur in der Nähe dieses Kellners erwische, kannst du den Rest des Urlaubs auf dem Zimmer verbringen. Wer weiß, was du dir bei so einem alles holst.«
»Papa! Jetzt reicht es aber! Er ist sowieso nicht mein Typ.« Ich rollte genervt mit den Augen.
Pepe kam mit den Getränken beladen an den Tisch zurück. Mein Vater musterte ihn abfällig von oben bis unten. Mit einer stoischen Gelassenheit ignorierte der Kellner die Verachtung, die ihm entgegenschlug, und stellte mit einem strahlenden Lächeln eine Cola vor mich hin. Da er mir ein wenig leidtat, nickte ich ihm freundlich zu. Sein Grinsen wurde noch breiter, als ich mich in fast akzentfreiem Spanisch bei ihm bedankte.
»Kind, ich versteh dich nicht. Der Junge ist doch richtig süß«, versuchte meine Mutter, mich noch einmal zu überzeugen, nachdem Pepe weitergezogen war.
Ich rollte mit den Augen. »Ja genau. ›Junge‹, das trifft den Nagel auf den Kopf. Er ist wahrscheinlich gerade erst volljährig geworden, wenn überhaupt. Womöglich käme ich noch wegen ›Verführung Minderjähriger‹ ins Gefängnis.«
»Red keinen Unsinn. Ich find ihn niedlich!«
»Dann schnapp ihn dir doch selbst!«
Zu meinem Glück konnten meine Eltern die Antwort nicht mehr hören, denn in diesem Moment fing die Abendunterhaltung an. Laute lateinamerikanische Klänge dröhnten von der Bühne zu uns herüber. Ich reckte meinen Kopf, um die Tänzer besser sehen zu können, erhaschte aber nur hin und wieder einen Blick auf die Paare. Frustriert beschloss ich, dafür zu sorgen, dass wir das nächste Mal einen Tisch direkt vor dem Podium bekamen.
Ich mochte alles, das irgendwie mit Tanzen zu tun hatte. Seit etwa einem Jahr besuchte ich einen Tanzkurs, den die Uni für die Studenten anbot. Obwohl wir Mädels in der Überzahl waren, machte es tierischen Spaß und ich konnte von mir behaupten, in den lateinamerikanischen Standardtänzen sattelfest zu sein. Nur Merengue, Bachata oder Son hatte ich bislang noch nie getanzt.
Da unser Essen auf sich warten ließ, nutzte ich die Gelegenheit, um das WC aufzusuchen. Dass ich dafür an der Bühne vorbei musste, war mir natürlich bewusst. Ich entschuldigte mich bei meinen Eltern und schlenderte los. Hinter der Säule, die mir zuvor die Sicht versperrt hatte, verweilte ich und beobachtete eingehend, was die Tänzer zu bieten hatten.
Vier Pärchen, die Männer in Anzügen, die Damen in knappen Minikleidchen, wirbelten über das Parkett. Bevor ich die Animateure näher in Augenschein nehmen konnte, wechselte die Musik und ich traute meinen Ohren nicht. Sie spielten tatsächlich den Ententanz. Sollte das witzig sein?
Ja, es war witzig, wenn auch nicht beabsichtigt, denn der Moderator kündigte im selben Moment an, dass dies ein deutscher Volkstanz Namens Polka sei. Lachend kehrte ich zu unserem Tisch zurück, ohne auch nur einen weiteren Blick auf die Bühne zu werfen. Für heute hatte ich genug gesehen. Dass ich eigentlich aufs WC wollte, vergaß ich vollkommen.
»Kann man das stille Örtchen aufsuchen?«, erkundigte sich meine Mutter. Sie hatte eine Phobie, was öffentliche Toiletten anging.
Da ich nicht wahrheitsgemäß antworten konnte, zuckte ich nur mit meinen Schultern und meinte: »Geht so.«
Meine Mutter nahm dies zum Anlass, von einem Besuch abzusehen. Dementsprechend schnell musste ich mein Abendessen hinunterschlingen. Wir verließen das Lokal in dem Moment, in dem die Michael-Jackson-Show begann.
»Die wollte ich eigentlich sehen«, murrte ich. Der Urlaub fing ja super an.
»Wir sind ganze drei Wochen hier. Wenn wir Pech haben, müssen wir das sogenannte Showprogramm tagtäglich über uns ergehen lassen. Du wirst es verkraften, noch einen Tag darauf zu warten.«
Mein Vater duldete keine Widerrede. Ich musste mit meinen Eltern zu unseren Zimmern zurückzukehren, ob ich wollte oder nicht. Obwohl ich mittlerweile einundzwanzig war, behandelte er mich immer noch wie ein kleines Mädchen. Deshalb war es wie eine Befreiung, als ich aufgrund des Studiums zu Hause ausziehen konnte. Ich musste unbedingt einen Weg finden, mich auch hier abzunabeln, sonst würde ich die Abende gelangweilt auf meinem Zimmer verbringen.
»Ich geh noch schnell in die Lobby«, startete ich den ersten Versuch.
»Was willst du denn dort?« Mein Vater verzog unwillig das Gesicht.
»Das Freizeitprogramm von nächster Woche holen. In den Unterlagen war nur das Alte. Das gilt nur bis morgen«, flunkerte ich.
»Wir haben ein Aktuelles im Zimmer. Das kannst du haben, da wir sowieso nirgendwo mitmachen.« Mein Vater wollte mir einfach keine Chance geben, alleine loszuziehen. Seufzend folgte ich meinen Eltern, nahm den Flyer entgegen und begab mich in meine eigenen vier Wände.
Für heute gab ich auf, da mir der Flug noch in den Knochen steckte. Ich stellte mir allerdings den Wecker, um mich in aller Frühe zu den einzelnen Angeboten anzumelden.